KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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war, dass es ihr all die Jahre über nichts ausgemacht hatte, ja, dass es ihr nicht einmal aufgefallen war. Sie hatte in einem wohltuenden, betäubenden Nebel gelebt. Jetzt lichtete sich der Nebel, und zum Vorschein kam eine neue Welt, auf die sie nicht vorbereitet war.

      »Wir müssen ins Geschäft«, sagte sie unvermittelt.

      »Was?«

      »Wir müssen ins Geschäft«, wiederholte sie. »Jetzt gleich.«

      Das Himmlische Geschöpfe hatte drei Eingänge: das Kundenportal an der Straßenecke mit dem kleinen Platz davor, das Lieferantentor, das zum Innenhof hinausging, und den unauffälligen Beschäftigteneingang neben dem Schaufenster, der in ein schmales Treppenhaus führte. Exakt drei Personen hatten zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Himmlische Geschöpfe: Zhang Sammo, der stellvertretende Geschäftsführer, Tsema, der Lagerchef (für den Fall, dass eine dringende Lieferung außerhalb der Geschäftsstunden eintraf), und Xialong. Normalerweise identifizierten sie sich mit der ID-App des Coms, doch darauf konnte sie nicht mehr zugreifen, da sie das Com in Onkel Wus Wohnung zurückgelassen hatte, und es hätte wohl auch nicht mehr funktioniert. Der Annäherungssensor, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte, verlangte bereits zum dritten Mal mit metallisch schnarrender Stimme: »Bitte identifizieren Sie sich!« Xialong wusste, dass nach der sechsten Aufforderung bei der zuständigen Überwachungsfirma ein automatischer Alarm ausgelöst werden würde. Dann würde es keine zehn Minuten dauern, bis ein Wagen hier eintreffen würde.

      »Und jetzt?«, flüsterte Kung, nervös von einem Bein aufs andere tretend. Sie standen dicht beieinander, und er bekam mit, dass sie mindestens zwei Tage lang nicht geduscht hatte. Er war in dieser Beziehung unempfindlich – gegen sich selbst und andere.

      »Es gibt ein Failsafe«, sagte Xialong.

      »Ach ja? Und wie funktioniert das?«

      »Kombinierte Stimm- und Gesichtserkennung.«

      »Nicht gerade der neueste Standard.«

      Xialong grinste. »Override«, sagte sie. Das Sensorfeld färbte sich dunkelgrün, und einen Moment lang spiegelte es ihr Gesicht, dann klickte das Schloss, und die Tür sprang auf. Sie zwängten sich in den schmalen Flur. Xialong zog die Tür hinter sich zu.

      Kung holte die Kopfleuchte aus seinem Rucksack, setzte sie auf und schaltete sie ein. Auch für Xialong hatte er eine Kopfleuchte eingepackt. »Und wenn jemand das Passwort geändert hätte?«, sagte er, als er ihr das elastische Band über den Kopf streifte.

      »Das war kein Passwort, sondern ein Systembefehl.«

      Kopfschüttelnd stapfte er hinter ihr über die schmale Fluchttreppe zur ersten Etage hoch. Vom Geländer der Empore aus blickte er in den dunklen Geschäftsraum hinunter. Die Bots ruhten unter ihren grauen Staubhüllen, schlafende Maschinen, von den draußen vorbeifahrenden Autos und der Straßenbeleuchtung in ein unstetes Halblicht gehüllt. Xialong hatte inzwischen die Tür zu ihrem Büro geöffnet, ebenfalls mittels Gesichtsidentifizierung. Sie kicherte leise; die Heimlichtuerei machte ihr offenbar Spaß.

      Kung hingegen war beklommen zumute. Er kam sich vor wie ein Einbrecher, und auch wenn dieses Gewerbe eine gewisse Verwandtschaft zum Hacken aufwies, war das hier doch etwas grundlegend anderes. Es war die Realität, und wenn man erwischt wurde, reichte es nicht aus, die Datenleitung zu kappen.

      Xialong hatte inzwischen hinter dem Schreibtisch auf ihrem Sessel Platz genommen. Ein Display fuhr hoch und beleuchtete fahl ihr Gesicht. Auf einmal sah sie aus wie eine Schauspielerin – wie eine Agentin in einem Thriller. Ihre Finger flogen über die Tastatur.

      »Du kannst zehn Finger?«, fragte Kung.

      »Du nicht?«

      Nein, konnte er nicht. Das chinesische Schreibsystem mit Umschrifteingabe und Auswahl des Zeichens aus der Ergebnisliste hatte er nie gemocht. Er verwendete eine amerikanische Tastatur im Zweifingersystem mit zusätzlicher Spracheingabe.

      Während Xialong auf den Bildschirm starrte und hin und wieder eine Handgeste für die Kamera vollführte, behielt er den Verkaufsraum und die Straße im Auge. Der Autoverkehr war stark, doch es waren relativ wenige Fußgänger unterwegs. Zwischen ihnen bewegten sich die kleineren Bots, die keinen Unterschied kannten zwischen Tag und Nacht und für ihre Besitzer Aufträge ausführten, während diese schliefen. Sie kauften ein, holten Pakete ab, entsorgten Müll und führten Hunde aus. Fast konnte man meinen, sie seien die eigentlichen Bewohner dieser Stadt, die ihren vermeintlichen Herren nur dann einen kurzen Auftritt gestatteten, wenn die Sonne die Staubglocke erhellte.

      Ein erstickter Aufschrei kam vom Schreibtisch. Er ging hinüber. Xialong fixierte das Display, die Hand vor den Mund geschlagen.

      »Was hast du?«, fragte er und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sich etwas in ihr verflüssigte. Auf dem Display liefen die Bilder von vier Überwachungskameras. Xialong zeigte auf einen Punkt der Zeitschiene. Das Bild sprang um.

      »Da!«, sagte Xialong. »Siehst du?«

      Im linken oberen Fenster war der Eingang des Geschäfts zu sehen. Eine schwarze Schwebelimousine hielt auf dem Vorplatz, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus. Hinten stieg eine Frau aus: Xialong, bekleidet mit einem hellen, eng geschnittenen Kostüm. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, schaute ein wenig verwirrt oder abgelenkt zur Seite, dann trat sie durch die Glastür in den Präsentationsraum. Im zweiten Kamerafenster durchquerte sie den Raum, nickte nach rechts und links Angestellten zu. Kurze Zeit später tauchte sie auf der Empore auf.

      »Das bist du«, sagte Kung.

      »Nein«, widersprach Xialong und deutete auf die Zeitliste. »Das war vorgestern um siebzehn Uhr zwölf. Ich habe das Geschäft am Vormittag verlassen und bin nicht wiedergekommen. Um die Zeit habe ich draußen ein Stück weiter auf einer Bank gesessen. Ich habe gesehen, wie der Wagen vorgefahren ist. Ich habe gesehen, wie diese Frau ins Geschäft gegangen ist.«

      »Und dann?«

      »Bin ich zu mir nach Hause gefahren und wurde von der Mottendrohne angegriffen.«

      »Ich verstehe«, sagte Kung, obwohl er nichts verstand. Xialong ließ die Videoaufzeichnungen noch einmal ablaufen: Ankunft des Wagens, Betreten des Geschäfts, Durchquerung des Präsentationsraums, Empore. Beim dritten Mal zoomte sie auf das Gesicht der Frau. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Das war sie und war es auch wieder nicht.

      »Hast du mal einen Stick?«

      Xialong wühlte in einer Schublade, dann reichte sie ihm einen USB-Stick. Er beugte sich vor, schob ihn in die Tischbuchse, bewegte die Hand und überspielte den Videoausschnitt. Dann zog er den Stick heraus und hielt ihn an die Beule, die sich auf seiner Schulter unter dem T-Shirt abzeichnete.

      »Was machst du da?«, fragte Xialong.

      Kung legte den Stick auf den Tisch und zog sich das Sweatshirt über den Kopf. Die Beule war kreisrund wie der angeschwollene Stich eines Rieseninsekts.

      »Was ist das?«

      »Das ist die Zukunft.«

      »Die Zukunft?«

      »Ein Implantat«, erklärte Kung. »Irgendwann werden diese Dinger Bewusstseinserweiterungen sein, unsere Berater, Gefährten, Freunde. Im Moment sind sie praktische Datenspeicher,

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