Entstellt. Amanda Leduc
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Cesare Lombroso, der vielen als der Vater der Kriminologie gilt, schrieb im Jahr 1903: »Je mehr der Mensch in Zivilisation und Kultur fortschreitet, zeigt er im Vergleich zu Primitiven eine immer stärkere Rechtshändigkeit, die männlichen mehr als die weiblichen, Erwachsene mehr als Kinder.« Lombroso betrachtete Linkshändigkeit als ein Zeichen von Abnormalität – eine Behinderung, die die Habenden von den Habenichtsen unterschied.
Dr. Humphreys war natürlich nicht der Meinung, dass ein linkshändiges Kind minderwertig sei. Doch sind wir nach so vielen Jahrhunderten von Legenden und Aberglauben überrascht, in seiner Beschreibung eine gewisse Ungläubigkeit mitschwingen zu hören, eine gewisse Spekulation? … entwickelte sie sich aus irgendeinem Grund zur Linkshänderin.)
Gegenwärtig ist die motorische Behinderung recht leicht und scheint nur ihr rechtes Bein, genauer dessen Knöchel und Fuß zu betreffen. Den Eltern fiel auf, dass sie länger braucht, um zu Fuß bestimmte Strecken zurückzulegen, etwa auf dem Schulweg oder in einem Einkaufszentrum. Es wurde außerdem eine leichte Linksneigung des Kopfes festgestellt, vermutlich im Zusammenhang mit einem Schielen, ein leichter Muskelschwund in der rechten Wade sowie eine sehr leichte Skoliose im unteren Rücken.
Bei der klinischen Untersuchung ist das Kind sehr aufmerksam und kooperativ. Sie weist jedoch einen leicht spastischen hemiparetischen Gang auf, der das rechte Bein nahezu vollständig einbezieht. Sie entwickelt zudem einen Pes equinovarus, der zu einem Hinken führt.
Hemiparetisch: von Hemiparese, leichte Lähmung einer Körperhälfte. Aus dem Altgriechischen hemi-: halb; páresis: (»das Vorbeilassen, Erschlaffung«), leichte, unvollständige Lähmung, Schwächung eines Muskels, einer Muskelgruppe.
Pes equinovarus: Fehlstellung des Fußes, (equine: wie bei einem Pferd), bei der der Fuß nach unten überstreckt und einwärts verdreht ist. Lateinische und medizinische Bezeichnung für einen Klumpfuß, mit dem auch Ödipus gezeichnet war.
Doch spricht man von Ödipus eigentlich immer als behindertem Mann? Seine Behinderung wird meist symbolisch gelesen, als Zeichen dafür, wie seine Eltern versuchten, die Götter zu überlisten. Sie ist ein wesentlicher Teil der Erzählung eines Mannes, der immer wieder versucht, seinem Schicksal zu entkommen. Seine Behinderung ist keine Tatsache in seinem Leben – eine alltägliche Begleiterin, die neben ihm her und in ihm, durch ihn existiert –, sondern vielmehr ein Symbol, das sein Narrativ auf eine ganz bestimmte Weise vorantreibt: Er muss sie überwinden, sich über sie erheben, sich beweisen, denn als jemand mit einem Fuß, der anders ist, als jemand, der zur Bestrafung für die Verfehlungen seiner Eltern gezeichnet wurde, gilt er automatisch als Geringerer.
Erst durch den Klumpfuß gelangt Ödipus’ Narrativ zur Vollendung: Um seine Behinderung zu überwinden, muss er sich der Tatsache beugen, dass die Götter sie über ihn verhängt haben, dass sie ihn damit heimgesucht haben als Symbol für seine Hybris, als er das Schicksal herausgefordert hat. Um die ganz reellen Schwierigkeiten zu meistern, vor die der Klumpfuß ihn in seinem Leben stellt, muss er – und wir, als Leser*innen seiner Geschichte – ihn stattdessen als Symbol für etwas anderes betrachten, für ein anderes Übel, dessen Wiedergutmachung ihm erst ermöglichen wird, ebenso zu triumphieren wie alle anderen nichtbehinderten Heroen. So wird die gelebte Realität der Behinderung zu etwas Abstraktem und Vorübergehendem – was es umso schwerer macht, Behinderung als eine konkrete Realität in der Welt zu sehen. Zum ersten Mal dachte ich an Ödipus als an einen behinderten Mann während meiner Recherchen zu diesem Buch. Das macht Behinderung-als-Symbol mit uns und unseren Geschichten.
Oder, wie Tobin Siebers es ausdrückt: »Niemand liest Sophokles’ Stück als Tragödie über einen Krüppel und einen Blinden, die um die Zukunft von Theben ringen.«
»Behinderung nur als Metapher für etwas anderes zu lesen, ist schon an sich eine Form der Auslöschung«, bemerkt Ann Schmiesing, »weil es das Individuum und seinen behinderten Körper abstrahiert.«
Doch meine Zerebralparese war nie ein Symbol für irgendetwas. Sie war immer nur ich – ich und mein Körper. Wie soll es also von hier aus weitergehen? Die Geschichten, die wir erzählen, die Symbole, die wir verwenden. Wie sollen wir in einer Gesellschaft vorankommen, die den behinderten Körper so oft als Symbol eines inneren Übels einsetzt? Wie können wir uns die chaotische, gelebte Komplexität dessen, was es bedeutet, in dieser Welt einen anderen Körper zu haben, zurückerobern?
2 Behinderung: Ein Märchen
Behindert: infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt.
Der Begriff disabled im Englischen ist das Partizip von disable. Aus dem Lateinischen dis (»das Gegenteil von etwas«) und dem Altfranzösischen (h)able (fähig, geeignet, brauchbar, imstande, geschickt), das wiederum vom lateinischen Verb habere – (er-)halten, empfangen – abstammt. Der Begriff kam im sechzehnten Jahrhundert in Gebrauch. Während er früher vorwiegend für Beeinträchtigungen physischer Art verwendet wurde, wird er heute weitgehend als Begriff für alle Arten von Beeinträchtigungen angesehen.
Im Deutschen ist behindert das Partizip von behindern (hemmen, störend aufhalten, jemandem/einer Sache hinderlich sein, im Wege stehen). Der Stamm hindern leitet sich ab aus dem althochdeutschen gihintaren, (betrügen, herabwürdigen), später hintaren (hemmen, vorenthalten, herabwürdigen, erniedrigen). Im Mittelhochdeutschen hindern (zurücktreiben, stören, abhalten).
Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge ist Behinderung ein Überbegriff, der Beeinträchtigungen, Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen umfasst. Eine Beeinträchtigung bezieht sich auf Probleme mit den anatomischen, psychischen oder physiologischen Funktionen und Strukturen des Körpers; eine Aktivitätseinschränkung ist gegeben, wenn ein Individuum bei der Ausübung von Aufgaben oder Handlungen Schwierigkeiten hat, während eine Teilhabeeinschränkung ein Problem darstellt, das ein Individuum bei der Beteiligung an bestimmten Lebenssituationen erfährt. Behinderung ist somit nicht nur ein gesundheitliches Problem, sondern vielmehr ein komplexes Phänomen, das die Interaktion zwischen den körperlichen Merkmalen eines Individuums und der jeweiligen Gesellschaft widerspiegelt.
Die Betrachtung von Behinderung als komplexes Phänomen ist auch der zunehmenden Verbreitung des sozialen Modells von Behinderung zu verdanken, dem zufolge die Behinderung von Individuen stärker von systemischen Barrieren, Exklusion und negativen Einstellungen gegenüber ihren Beeinträchtigungen abhängt als von den körperlichen Beeinträchtigungen selbst. (Wenn ein Gebäude Fahrstühle und barrierefreie Zugänge hat, schränkt die Tatsache, dass eine Person einen Rollstuhl nutzt, sie in diesem Gebäude in keiner Weise ein; im Gegensatz dazu stellt ein Gebäude mit Eingangstreppen und ohne Fahrstühle eine Barriere dar, weil eine Person, die auf Barrierefreiheit angewiesen ist, sich darin nicht bewegen kann. Die Architektur des Gebäudes berücksichtigt also strukturell gesehen nicht die Bedürfnisse der unterschiedlichen Körper.)
Das soziale Modell von Behinderung steht im Gegensatz zum medizinischen Modell, in dem ein Körper an eine Diagnose gebunden wird und der medizinische Eingriff zur Lösung oder Beseitigung der konkreten Behinderung oder Erkrankung im Vordergrund steht. »Das medizinische Modell«, bemerkt Tobin Siebers, »definiert Behinderung als einen individuellen, der jeweiligen Person innewohnenden Defekt, der geheilt oder beseitigt werden muss, damit die Person sich als menschliches Wesen voll entfalten kann.« Mit anderen Worten: Nicht die Gesellschaft