Entstellt. Amanda Leduc
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Dabei ist es jedoch nie die Gesellschaft, die sich ändert, und wenn noch so viele Halbtiere und Küchenmägde ihren Platz an der Tafel einfordern. Vielmehr sind es fast immer die Protagonist*innen selbst, die sich in irgendeiner Weise verändern – indem sie ansehnlicher, schöner werden, besser in die vorgeprägten Formen der bestehenden Gesellschaft passen. Obwohl der Eingriff nicht chirurgisch, sondern magisch ist, kann man sich vorstellen, wie die Verfasser*innen dieser Märchen zugunsten des medizinischen Modells argumentieren: die lebensrettende Operation – wobei Leben mit sozialem Status und Anerkennung gleichgesetzt wird. Das Kind, dessen Klumpfuß heute chirurgisch gerichtet wird, würde im Märchen von einer guten Fee oder einer bösen Hexe besucht werden, die mit dem unwiderstehlichen Geschenk des Normkörpers lockt.
Im Märchen ist das Individuum bei seiner Verwandlung auf Feen und Zauberei – oder auf die Götter – angewiesen, weil davon ausgegangen wird, dass die Gesellschaft sich nicht verbessern kann (und wird). Im historischen Kontext der Märchen betrachtet, leuchtet das zumindest ein wenig ein: Welchen Handlungsspielraum hat ein*e Landarbeiter*in mit einem behinderten Kind und wenig bis keiner Macht, die Welt, in der er*sie lebt, zu verändern? Doch seltsamerweise bewirkt die Zauberei in den Märchen auch das Gegenteil: Anstatt eine Welt aufzuzeigen, in der Veränderung möglich ist und den Rechtlosen Gutes widerfahren kann, festigt sie die bestehenden Klassen- und Gesellschaftsstrukturen sowie die traditionellen Vorstellungen davon, was es bedeutet, über einen funktionierenden Körper zu verfügen. Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb die Protagonist*innen fast immer einen Preis für ihre magische Transformation zahlen müssen. Einfach so von einem Zustand in einen anderen überzuwechseln – das gestattet die Gesellschaft nicht. Also muss der*die Protagonist*in sich als würdig erweisen – durch gute Taten und Sanftmütigkeit, wie im Fall von Aschenputtel/Cinderella, oder durch Opfer und Prüfungen, wie die kleine Meerjungfrau.
Wer daran scheitert, trifft vielleicht auf eine Fee oder vertraut, wie in vielen Märchen der Brüder Grimm, auf Gott. »Die Märchen der Brüder Grimm vertreten zwar gesunde und normgerechte Körper als Ideal«, schreibt Ann Schmiesing, »doch gleichzeitig suggerieren sie oft, dass dieses Ideal unerreichbar ist, zumindest ohne göttliche Intervention.« Gehen, sehen, hören, fühlen. Gaben, die all die Mühe wert sind, wie hoch der Preis dafür auch sein mag.
Ich bin vier Jahre alt, fast fünf, als ich das Krankenhaus verlassen darf, nachdem sie mir den Kopf aufgeschnitten und Teile der Zyste herausgeschält haben. Ich freue mich, nach Hause zu kommen. Meine Mutter und ich haben im Krankenhaus alle Bände von Unsere kleine Farm gelesen, manche sogar zweimal. (Laura und ihre Freunde mochte ich am liebsten. Mir gefiel es, dass Mary und Laura Ingalls in einem unterirdischen Haus leben und auf ihrem Dach im Gras spielen.)
Eines Tages gegen Ende meines dreiwöchigen Aufenthalts komme ich mit der Schwester zusammen in mein Krankenzimmer, wo meine Mutter und meine Großmutter zusammen mit Dr. Humphreys auf mich warten.
»Wir haben drei Kleider für dich«, sagt Dr. Humphreys. Er lächelt. Ich mag sein Lächeln sehr. »Aber du kannst nur eins davon anziehen! Du musst dir also aussuchen, welches du tragen willst.«
Es geht um ein Festkleid – das weiß ich sogar mit meinen vier Jahren. Wir feiern, weil ich bald nicht mehr im Krankenhaus sein muss. Bald werde ich keine Verbände mehr haben. Bald wird Schwester Margaret mir nicht mehr den Kopf reinigen und beim Baden helfen müssen.
Ich weiß nicht mehr, wie die anderen beiden Kleider aussahen, aber das Kleid, das ich mir aussuche, ist blassgrün. Es hat kurze Ärmel und vorne zwei Reihen aus rosa Schleifen. Wenn ich mich drehe, bauscht sich der Rock, auch wenn ich mich wegen der Verbände nicht besonders schnell drehen kann.
Ich finde es wunderbar. Ich fühle mich wie eine Prinzessin.
Im sozialen Modell von Behinderung beinhaltet die »Rückkehr« von der Aufgabe auch die Anerkennung des anderen Körpers: wie er – anders – in die Welt passt und wie die Gesellschaft sich verändern muss, um ihn aufzunehmen. »Behindernde Umgebungen«, schreibt Siebers, »produzieren Behinderungen an Körpern und bedürfen der Intervention im Sinne sozialer Gerechtigkeit.« Das soziale Modell entstand in den 1960er Jahren als Gegenentwurf von behinderten Menschen zu der dem medizinischen Modell innewohnenden Bevormundung und Infantilisierung. In den Protokollen eines Treffens zwischen der UK Disability Alliance und der Union of the Physically Impaired Against Segregation (Vereinigung körperlich beeinträchtigter Menschen gegen Ausgrenzung) wird dies deutlich: »Unserer Auffassung nach ist es die Gesellschaft, die körperlich beeinträchtigte Menschen behindert. Behinderung ist etwas, das uns zusätzlich zu unseren Beeinträchtigungen auferlegt wird, indem wir unnötigerweise isoliert und von der vollen gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden.«
Im sozialen Modell geht es darum, Räume zu schaffen für Rollstühle und damit für Körper, die nicht laufen können, anstatt um jeden Preis laufen zu müssen; es geht um ein zunehmendes Bewusstsein für Dinge wie Gebärdendolmetschen und duftneutrale und chemikalienfreie Räume bei öffentlichen Veranstaltungen; es geht, wie bereits angedeutet, um die Einsicht, dass öffentliche Räume und Veranstaltungen, die keine barrierefreien Zugänge und Toiletten haben, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht werden. Vor allem geht es um die Forderung, dass behinderte Menschen bei allen Entscheidungen, die ihre Teilhabe an der Gesellschaft betreffen, ein Mitspracherecht haben – und dass die Gesellschaft für all ihre Mitglieder verantwortlich ist, wozu auch gehört, den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Körper entgegenzukommen. Der Slogan Nothing about us, without us (Nichts über uns ohne uns), der die Behindertenrechtsbewegung seit den 1990er Jahren begleitet, bringt diesen Anspruch des sozialen Modells zum Ausdruck.
In den Jahren seit seiner Einführung hat das soziale Modell von Behinderung immer mehr an Zugkraft gewonnen. Wie auch bei anderen Bewegungen erwies sich das Aufkommen der Sozialen Medien zu Beginn des 21. Jahrhunderts als besonders hilfreich und beflügelnd für die Behindertenrechtsbewegung, da vorbehaltlich bestehender ökonomischer Barrieren (Zugang zum Internet, zu einem Computer oder Mobiltelefon, zu Bibliotheken) viele behinderte Menschen daran teilhaben können. Twitter-Hashtags wie #DisabledAndCute (initiiert von der Schwarzen behinderten Autorin und Aktivistin Keah Brown), #ThingsDisabledPeopleKnow (initiiert von der Schwarzen behinderten Autorin und Aktivistin Imani Barbarin), und #DisabilityTooWhite (initiiert von der Schwarzen behinderten Aktivistin und Bloggerin Vilissa Thompson) haben in jüngster Zeit dazu beigetragen, den Diskurs über Behinderung, über das soziale Modell und Barrierefreiheit in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken.
Auch das ist eine Art des Geschichtenerzählens, wenngleich in moderner Form. Das Medium mag zwar relativ jung sein, doch der Akt des Erzählens als solcher hat eine lange Tradition, den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Die Kunst dabei ist, die Geschichte so zu erzählen, dass sie die Ungerechtigkeit zeigt und die Gemeinschaft und die bestehenden sozialen Strukturen zu Veränderungen aufruft, so dass alle – und nicht nur ein kleiner Kreis von Auserwählten – künftig Chancen auf Erfolg haben.
»Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen – das heißt, das Wort zu beherrschen – war unerlässlich für Anführer*innen, Schaman*innen, Priester*innen, König*innen, Medizinmänner oder -frauen, Heiler*innen, Priester*innen und so weiter in einer Familie, einem Clan, Stamm oder einer kleinen Gesellschaft«, schreibt Jack Zipes in The Irresistable Fairy Tale. Märchen, führt er aus, appellieren wesentlich an die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die tief im Herzen jedes Menschen brodelt. Die Fähigkeit, eine überzeugende Geschichte zu erzählen, war früher essenzieller Bestandteil von Herrschaft und Macht. Und das ist sie womöglich bis heute: Wenn wir etwa an Menschen wie Barack Obama denken, dann wird deutlich, dass