Das Prinzip Uli Hoeneß. Christoph Bausenwein
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Am 22. September 1968 gab der »Haller im Taschenformat« nach drei Schüler-Länderspielen sein Debüt in der Jugendnationalmannschaft, für die er insgesamt 17-mal antrat. Als sich das Jugendteam des DFB im Januar 1969 in einem israelischen Kibbuz auf die Qualifikation zur Europameisterschaft in der DDR vorbereitete, berichtete der Hobby-Journalist Hoeneß in der »Südwest-Presse« voller Stolz von den im Trainingslager herrschenden »Profibedingungen«. Beim EM-Turnier selbst durften sich die von Autogrammjägern und Spähern der Bundesligavereine umlagerten Spieler bereits wie Stars fühlen. Udo Lattek lasse die Anrufe interessierter Bundesligavereine abfangen, klärte Hoeneß die Leser seiner Heimatzeitung auf, zudem sei ein striktes »Redeverbot über Gelder und Gehälter« verhängt. Die Jugendspieler durften vom künftigen Ruhm träumen, der Erfolg indes blieb zunächst noch aus. Es setzte Niederlagen gegen Bulgarien und Frankreich, nur gegen Spanien gelang ein 2:1-Sieg, zu dem Hoeneß einen für ihn eher untypischen Kopfballtreffer beisteuerte. Das Turnier war kein Erfolg, doch das hinderte den Berichterstatter der »Südwest-Presse« nicht, in großen Tönen über das Ereignis zu schwadronieren. »In unserem letzten Spiel gegen Spanien«, schrieb Uli Hoeneß, »empfingen uns 20.000 Zuschauer mit großem Applaus – im Gegensatz zu unseren Funktionären. Als mir das 1:0 mit einem Kopfballtor gelang, schien das Stadion zu bersten. Nach unserem 2:1-Sieg erreichte die Begeisterung ihren Höhepunkt. Von einer jubelnden Menge wurden wir zur Kabine geschoben. Wildfremde Menschen umarmten mich, rissen mir zunächst die Spielführerbinde vom Arm und schließlich das Trikot vom Leibe. Auch im Umgang mit den Spielern aus der DDR machten wir nur gute Erfahrungen. Heimlich kamen sie auf unsere Zimmer und unterhielten sich mit uns über die Verhältnisse in der Bundesrepublik. Sie waren freundlich und verbargen ihre Sympathien für den Westen keineswegs, obwohl sie es eigentlich drüben recht gut haben. Wenn wir auch sportlich nicht wie erwartet abgeschnitten haben, so haben wir durch unseren Sport vielleicht mehr erreicht als so mancher Politiker zuvor.«
Der Status des Stars auf dem Rasen strahlte inzwischen bis ins Klassenzimmer aus. Am Schubart-Gymnasium in Ulm galt er als großer Held. Es kam sogar vor, dass der Unterricht unterbrochen wurde, wenn er vormittags für Deutschland spielte, damit die ganze Klasse sich das Spiel anschauen konnte, und wenn er eine Prüfung verpasste, wurden ihm großzügig Nachholtermine gewährt. Trotz seiner Sonderstellung war der Vorzeigeschüler durch seine Lebensgestaltung aber auch ein Außenseiter. »Training, Schule, Spiele, Training, Schule«, beschrieb Hoeneß seinen monotonen Stundenplan. »Dazu: kein Tropfen Alkohol, keine Zigaretten, keine verbummelte Nacht. Das ist mein Leben. Das Leben eines Profis.« Es war ein eintöniges, entbehrungsreiches Leben, das zuweilen Anlass zum Jammern gab. »Wenn meine Klassenkameraden mit ihren Freundinnen ins Kino oder zum Baden gingen und ich einsame Runden auf dem Fußballplatz drehte – da habe ich oft gedacht: Wofür? Ich habe nie das unbeschwerte, das sorglose Leben meiner gleichaltrigen Freunde gehabt. Ich weiß gar nicht, wie das ist, zum Beispiel Zeit zum Tanzen zu haben, für eine Diskothek, für ein Wochenende im Gebirge oder an der See.« Noch als erfolgreicher und gut verdienender Profi trauerte er der verlorenen Zeit der Unabhängigkeit und des In-den-Tag-hinein-Lebens nach. Das viele Geld sei zwar eine gewisse Entschädigung für all die auferlegten Reglementierungen, ob das aber all das ersetzen könne, was man versäumt hat, meinte er nachdenklich, »da bin ich mir nicht so sicher«.
Bayern-Spieler und Olympia-Amateur
Zu Beginn des Jahres 1970 fusionierten die Vereine SSV und 1846 zum SSV Ulm 1846, der nun den Aufstieg in die damalige Regionalliga Süd anstrebte. Uli Hoeneß war nicht abgeneigt, noch ein Jahr in Ulm zu bleiben, um sich ganz in Ruhe für das beste Angebot aus der Bundesliga zu entscheiden. Der DFB-Jugendnationalspieler, der inzwischen auch in der für die anstehenden Olympischen Spiele gebildeten Amateur-Nationalmannschaft auflief, war heiß begehrt. Im Hause Hoeneß ging es zu wie in einem Taubenschlag. Mehr als zehn Bundesligavereine – darunter Eintracht Frankfurt, Hertha BSC Berlin, der VfB Stuttgart, der 1. FC Nürnberg und 1860 München – hatten Vermittler ausgeschickt, um mit dem Nachwuchsstar und seinen Eltern zu verhandeln. Der Achtzehnjährige hatte bereits sehr genaue und konkrete Vorstellungen von seiner Zukunft. Den Vereinsvertretern erläuterte er, dass er Olympia-Amateur bleiben und nebenbei ein Anglistik-Studium betreiben wolle und dass er zur Sicherung seines Lebensunterhaltes im Verein gerne einen Job als kaufmännischer Angestellter hätte. Solche Ideen waren zu einer Zeit, als man Fußballer als dumpfe Proletarier wahrnahm, für die der Sport ihre einzige Aufstiegsmöglichkeit war, vollkommen ungewohnt. Der Gymnasiast aus Ulm gehörte einer Generation an, die im Fußball vor allem eine Karrieremöglichkeit sah, die man ganz bewusst planen konnte. Es war aber offensichtlich nicht so einfach, Hoeneß’ Vorstellungen und die der interessierten Vereine unter einen Hut zu bringen. Manche Unterhändler tauchten mehrmals bei der Familie Hoeneß in Ulm auf, aber eine Entscheidung wollte nicht fallen. Und dann ging alles plötzlich doch noch ganz schnell.
»Schon beim letzten Jugendländerspiel 1969 in Einbeck gegen Dänemark hatte mich unser damaliger Trainer Udo Lattek beiseite genommen und mir empfohlen, mich vorerst nirgends zu binden«, erläuterte Hoeneß sein zögerliches Verhalten. Kurz darauf rief der Bayern-Manager Robert Schwan im Hause Hoeneß an, erklärte, dass Udo Lattek als neuer Trainer der Münchner verpflichtet sei, und kündigte seinen Besuch für den nächsten Tag an. Schwan kam, und der Umworbene war sofort begeistert. »Er hielt keine langen Vorträge oder versprach mir das Blaue vom Himmel herunter. Er sagte nur: Die Chancen für mich stünden gut, da der FC Bayern einen Neuaufbau um die Stützen der Mannschaft – Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Franz Roth und Hans-Georg Schwarzenbeck – im Sinn habe.« Das waren fünf große und berühmte Namen, Nationalspieler allesamt, die im Dress der »Roten« 1967 den Europacup der Pokalsieger und 1969 die Deutsche Meisterschaft errungen hatten. Die Erfüllung des großen Traums, den er bei der WM in England geträumt hatte – einmal neben einem Franz Beckenbauer auf dem Platz zu stehen –, war zum Greifen nah. Diese Stars also würden bald seine Mitspieler sein: der kurzbeinige Mittelstürmer Gerd Müller mit der eingebauten Torgarantie, dessen rasche Auffassungsgabe auf dem Platz im eigenartigen Kontrast stand zu seinem etwas trägen Gemüt; der katzengewandte Torwart Sepp Maier, der stets den Kasper spielte, aber in Wahrheit immer viel ernster war, als es schien; der ebenso bissige wie stämmige Mittelfeld-Rackerer »Bulle« Roth, vor dessen hartem Schuss jeder Gegner zitterte; der eckige Vorstopper »Katsche« Schwarzenbeck, der stets bescheiden bleibend die Drecksarbeit für den »Kaiser« Beckenbauer verrichtete; und schließlich Beckenbauer selbst, der mit seiner eleganten Interpretation des Liberos erfolgreich dem Vorurteil entgegenkickte, in Deutschland bestehe der Fußball nur aus Blut, Schweiß und Tränen. Uli Hoeneß brauchte nicht viel Imagination, um sich selbst, in der Rolle des im Sturm sprintenden Jung-Siegfried, in dieser Reihe zu sehen. Schwan meinte, dass man ihm einiges zutraue, warnte aber auch: »Durchbeißen müssen Sie sich selbst.«
Die klare Sprache des damals 48 Jahre alten Bayern-Managers imponierte Hoeneß. Schwan war im Vergleich zu den eher dilettantisch agierenden Männern in den Führungsgremien anderer Vereine ein absoluter Profi. Der frühere Gemüsehändler und Abteilungsleiter bei einer Versicherung war 1964 als ehrenamtlicher Spielausschuss-Vorsitzender zum FC Bayern gekommen. Zwei Jahre später hatte der stets gut gekleidete Pfeifenraucher aus dem ehrenamtlichen Posten ein Geschäft gemacht, war zum ersten hauptamtlichen Manager im deutschen Fußball und zugleich Beckenbauers persönlicher Betreuer geworden. Schwan schloss für seinen Schützling hochdotierte Werbeverträge ab und sorgte damit für den Aufstieg des »Kaisers« zum Weltstar und Fußball-Millionär, was sich durch lukrative Provisionen – Schwan wurde »Mister 20 Prozent« genannt – auch für ihn selbst durchaus lohnte. Kein Wunder also, dass sich der für sein Alter enorm professionelle Hoeneß von so einem Mann angezogen fühlte und den entscheidenden Tag fest in seinem Gedächtnis einspeicherte. »Es waren noch 48 Tage bis zum Mathe-Abitur. Ich bekam gerade eine Nachhilfestunde, als Robert Schwan kam. Er hat geduldig gewartet, bis die Stunde zu Ende war. Dann habe ich den Vertrag unterschrieben, obwohl