Persönlichkeit führt. Dietmar Hansch
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Stress und Flow als Gegenpole
Flow ist das Gegenteil von Stress und stressassoziierten ungesunden psychischen Zuständen (z.B. Angstzustände, Depressionen). Stress entsteht unter ganz bestimmten Umständen: wenn ich reflektierend aus dem Sein heraustrete und ein Soll definiere, das zum Ist in Differenz steht, wenn ich diese Differenz bewusst bewerte und als bedrohlich empfinde und wenn ich mit meinem Willen Druck ausübe, um das Sein in die Form des gedanklich definierten Soll zu pressen (wir werden das später noch ausführlich besprechen).
Wenn Stress in Flow umschlägt
Besonders in Situationen, die oft mit Stress und Anspannung verbunden sind, wird der Eintritt von Flow als überwältigende Glückserfahrung erlebt. Denken Sie etwa an die Entwicklung einer Liebesbeziehung, bei der die ersten Umarmungen und Küsse ganz ohne Planung und Verkrampfungen wie von allein geschehen und Sie das Gefühl haben, dass sie sich ohne bewusste Entscheidung notwendig ereignen. Oder wenn man zu ein und demselben Thema sehr oft Vorträge hält – irgendwann beherrscht man den Stoff so traumhaft sicher, dass das Erleben in einen Dauer-Flow umschlägt.
Wie insbesondere die Studien von M. Csikszentmihalyi (1993) gezeigt haben, tragen häufige Flow-Momente im Alltag entscheidend zu Glück und Lebenszufriedenheit bei. Flow ist die höchste Form von psychischer Harmonie. Man kann davon ausgehen, dass sie auch harmonisierend auf körperliche Funktionsabläufe wirkt und so zur psychosomatischen Gesundheit beiträgt.
Wenn es also so etwas wie einen Generalschlüssel, einen Haupthebel zur Verwirklichung unserer wichtigsten Wünsche gibt, dann ist das Flow.
Es wäre wunderbar, wenn es uns gelingen könnte, möglichst lange und oft im Flow zu sein. Leben wie ein Vogel fliegt – so formulieren es die Buddhisten. Doch wie kommen wir zu Flow?
Flow-Potenzial
Nun, in der konkreten Situation gibt es keine Garantie dafür, in den Flow-Zustand zu kommen. Aber wir können in unserer Persönlichkeit Bedingungen schaffen, die unsere Chancen auf Flow erhöhen. Diese Bedingungen wollen wir als Flow-Potenzial bezeichnen. Je mehr Flow-Potenzial wir in uns aufbauen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Alltag oft und lange Flow zu leben. Wie können wir unser Flow-Potenzial steigern? Dabei helfen uns zwei Prozesse, die sich wechselseitig fördern: innere Befreiung und inneres Wachstum.
1.2 Das Tausendfuß-Problem: Ich und Selbst
Die reflexive Blockierung
Die Problematik von Flow und Stress wird sehr schön durch die Geschichte vom Tausendfuß und dem Spiegel illustriert: Elegant und unbefangen schlängelt sich ein Tausendfuß durch den Wald. Doch dann trifft er auf eine Spiegelscherbe und erschrickt ganz fürchterlich, als er erstmals in seinem Leben sein eigenes Abbild sieht. Wie kann man denn mit so vielen Beinen laufen, ohne sich heillos zu verheddern? Mit welchem Bein muss ich eigentlich beginnen, wenn ich wieder loslaufen will? Erschreckt stellt er fest, dass er das gar nicht weiß. Seither steht er verzweifelt und bewegungsunfähig vor der Spiegelscherbe.
Vor der Begegnung mit dem Spiegel war unser Tausendfuß im Flow. Der Blick in den Spiegel bescherte ihm Stress mit der Folge einer reflexiven Blockierung. Der unreflektiert als Ganzheit funktionierende Tausendfuß steht für das, was wir als Selbst bezeichnen wollen. Der Spiegel hingegen symbolisiert das bewusste Ich.
Chancen und Risiken des Bewusstseins
Flow ist ein Zustand, in dem wir uns als Ganzheit erfahren, die nur von einem ganzheitlichen Selbst bestimmt wird. Es gibt nur das Selbst, und sonst nichts. Wenn sich aus diesem Selbst eine zweite Ebene, eine Bewusstseinsebene heraushebt, die eine Selbst-Bespiegelung ermöglicht, entstehen neue Chancen und neue Risiken: Chancen im Sinne neuer Möglichkeiten der Kreativität, des Lernens, aber auch der Selbsterfahrung und des Selbstgenusses; Risiken in Form möglicher Teufelskreise, die sich zu vielfältigen Formen psychischer Störungen aufschaukeln können.
Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund diese beiden zentralen Begriffe Ich und Selbst noch einmal definieren:
Ich = wertendes und intendierendes Bewusstsein (d.h. ein Bewusstsein, das Ist/Soll-Vergleiche durchführt und über die Willenskraft Veränderungen des Ist anstrebt).
Selbst = Gehirn und Körper mit allen Potenzialen, die sich entweder unbewusst entfalten oder von einem nicht wertenden, nicht intendierenden Bewusstsein begleitet werden (ein Bewusstsein, das einfach nur da ist und das sich entfaltende Sein annimmt, wie es ist).
Wenn wir diese Begriffe im hier definierten Sinn verwenden, werden sie kursiv gesetzt.
Reflexive Blockierungen im Alltag
Erinnert Sie das Tausendfuß-Syndrom an Situationen aus Ihrem Alltag? Als ich vor einigen Jahren in einer fremden Stadt dringend Geld benötigte, versuchte ich, mich auf dem Weg zum Bankautomaten an meine Geheimnummer zu erinnern. Entsetzt musste ich feststellen, dass sie mir nicht mehr als explizites Wissen zur Verfügung stand. Ich geriet in Stress und war nicht dazu in der Lage, dem Automaten auch nur einen verdammten Cent zu entlocken. Zu Hause hatte ich die Nummer in den Monaten zuvor immer mehr »automatisiert« eingegeben, ohne bewusst darüber nachzudenken. Es gibt spezielle und wirksame Techniken, um solche Fallen zu vermeiden beziehungsweise wieder aus ihnen herauszukommen, wie zum Beispiel die paradoxe Intention, auf die wir später genauer eingehen (siehe Kapitel 2.3).
1.3 Das Ich
Vernunftauge und pragmatische Einstellung
Damit unser Ich seine Bewertungs- und Veränderungsaufgaben erfüllen kann, braucht es zwei Kontrollorgane – wir wollen sie hier als Vernunftauge und als Synergieohr bezeichnen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie Sie in der Tanzschule das Tanzen gelernt haben oder im Sportunterricht das Kugelstoßen. Beim Erlernen so komplexer Bewegungsmuster gib es zwei grundlegende innere Einstellungen: In der pragmatischen Einstellung konzentriert man sich auf Korrekturen an den Details der Bewegung, die beispielsweise die Fußstellung oder die Körperhaltung betreffen. Hierbei helfen auch Korrekturen von außen, etwa durch Hinweise des Lehrers/Trainers oder auch durch den Blick in einen Spiegel. Diese auf Veränderungen am Detail gerichtete Perspektive wird uns vom Vernunftauge ermöglicht.
Teil und Ganzes
Da das Fenster unseres Bewusstseins aber so eng ist, können wir immer nur ein oder wenige Details gleichzeitig in den Blick unseres Vernunftauges nehmen. Auf diese Weise lässt sich zwar absichern, dass zum Beispiel die Stellung des rechten Fußes korrekt ist. Es lässt sich aber nicht erfassen, ob die Koordination der komplexen Gesamtbewegung des Körpers optimal ist. Diese ganzheitsbezogene Information liefert uns nun das Synergieohr in Form von Stimmigkeits- oder Unstimmigkeitsempfindungen, die wir als Synergiegefühle bezeichnen. Wir haben ein sicheres Gefühl für die Harmonie unserer Gesamtbewegung beim Tanzen oder beim Kugelstoßen.
Synergieohr und ästhetische Einstellung
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