Odenwaldjagd. H. K. Anger
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Sie schulterten Rucksäcke und Jagdbüchsen und setzten sich in Bewegung. Das gefrorene Blattwerk brach unter ihren Sohlen. Ihr Atem stieg in weißen Wolken auf. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch ein Buschwerk von jungen Fichten und Kiefern. Den Blick hielten sie nach unten gerichtet, um sich auf der Pirsch nicht durch das Knacken eines brechenden Astes zu verraten. Obwohl der Hang stetig anstieg, hatte der Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt keine Probleme, Nadja Künzel zu folgen. Respekt, dachte die Forstbeamtin und nahm sich vor, ihren Jagdgast später für seine Kondition zu loben. Im Moment war Schweigen angesagt.
Der aus Holz gezimmerte Hochsitz stand an der Nordseite der etwa Fußballfeld-großen Lichtung. Stumm erklommen sie die Stufen der Leiter und nahmen auf der rauen Holzbank Platz. Inzwischen war es hell geworden, sodass sie an diesem klaren Januarmorgen fast jeden Grashalm auf der Waldwiese ausmachen konnten. Ideale Bedingungen. Nadja Künzel lächelte. Doktor Meyerhoff hob den rechten Daumen in die Höhe.
Da vernahmen sie ein leises Rascheln. Eine Gruppe Hirschkühe betrat die Lichtung. Zuerst waren sie misstrauisch, sicherten mit aufgerichtetem Hals und steil gespitzten Ohren die Umgebung. Doch der Wind stand günstig. Das Kahlwild witterte die Menschen nicht. Ein Alttier senkte den Kopf und begann zu äsen. Die anderen Hirschkühe taten es ihm gleich.
Ein idyllischer Anblick, der Doktor Meyerhoff allerdings wenig freudig stimmte. Wo verdammt noch mal blieb »sein« Hirsch? Er musste sich zusammenreißen, um nicht ungeduldig auf der Bank hin und her zu rutschen. Nadja Künzel versuchte, ihn mit einem Lächeln zu beruhigen. Doch sie war ebenso angespannt wir ihr Sitznachbar. Was, wenn der Zwölfender an diesem Morgen nicht auftauchte? Wenn sich all ihre Vorbereitungen und Pläne als null und nichtig erwiesen? Die Forstbeamtin begann, ihre Unterlippe mit den Zähnen zu malträtieren. Der Ruf eines Eichelhähers ließ sie zusammenzucken. Das Rudel Kahlwild richtete die Hälse auf. Nadja Künzel hielt den Atem an.
Der alte Rothirsch mit der mächtigen Krone verließ die Deckung der Fichtenschonung und betrat die Lichtung. Die beiden Geweihstangen mit jeweils sechs Endungen schienen das Morgenlicht auf sich zu bündeln. Das stolze Haupt überragte die Köpfe der Hirschkühe um mehrere Handbreit. Die dunklen Augen waren klar und wachsam. Und doch entging ihnen das, was in Kürze das Schicksal des Rothirsches besiegeln sollte. Ohne Furcht oder Vorahnung schritt er in die Mitte der Lichtung, während die Hirschkühe sich am Rand aufhielten. Nichtsahnend gab er seine Flanke preis.
Doktor Meyerhoff legte die Jagdbüchse an und nahm das Ziel ins Visier. Atmete tief ein. Ein Schuss peitschte über die Waldwiese. Der Rothirsch sprang kurz in die Höhe und floh mit gesenktem Haupt. Vor der ersten Fichtenreihe brach er zusammen und rührte sich nicht mehr. Die Hirschkühe stoben in Panik auseinander.
»Gratulation!«, sagte Nadja Künzel, als sie den erlegten Hirsch erreichten. »Ein Blattschuss wie aus dem Bilderbuch. Mitten ins Herz.«
»Danke.« In Doktor Meyerhoffs Augen standen Tränen. Nicht, weil er den Tod des stattlichen Tieres bedauerte. Nein, solche Gefühle lagen ihm fern. Es waren Tränen der Freude, des Stolzes und letztendlich der Genugtuung. Bei der Jagdprüfung vor zehn Jahren hatte man ihn beinahe durchfallen lassen, ihm Schneid, Talent und Zielsicherheit abgesprochen. Aber Doktor Meyerhoff hatte sich durchgeboxt. Er war in Ungarn, Polen und in Südafrika auf Jagdreisen gegangen und hatte ständig dazugelernt. Zum Glück mangelte es ihm nicht am nötigen Kleingeld, um das kostspielige Hobby zu finanzieren. Da fielen die paar Tausend Euro für den Zwölfender, die er nun hinblättern durfte, nicht ins Gewicht. Die Gewissheit, »seinen Lebenshirsch« mit einem perfekten Schuss niedergestreckt zu haben, war ihm jeden Cent wert.
Mit vor Stolz geschwollener Brust sah er zu, wie Nadja Künzel ein paar Fichtenzweige abbrach und einen davon mit der gebrochenen Spitze zum Haupt des Hirsches ausgerichtet auf dem Einschussloch deponierte. Einen zweiten Fichtenzweig legte sie dem Hirsch quer in den Mund, um ihm mit diesem »letzten Bissen« ihre Achtung zu zollen. Schließlich zog sie ihr Jagdmesser aus der Scheide und überreichte dem erfolgreichen Schützen auf der blanken Klinge einen weiteren kleinen Fichtenast.
»Waidmannsheil!« Die Forstbeamtin beendete das Jagdritual mit einem kräftigen Händedruck.
»Waidmannsdank«, erwiderte Doktor Meyerhoff und steckte den Fichtenzweig an der rechten Seite seines Hutes fest.
»Da werden Sie bald eine schöne Trophäe zu Hause haben«, sagte Nadja Künzel.
»Das Geweih bekommt bei mir im Arbeitszimmer einen Ehrenplatz.«
»So tüchtige Schützen wie Sie können wir bei der nächsten Drückjagd gut gebrauchen«, säuselte Nadja Künzel.
»Ach, wissen Sie …« Doktor Meyerhoff blickte der stellvertretenden Forstamtsleiterin direkt in die Augen. »Mir geht es bei der Jagd nicht um das Gemeinschaftserlebnis. Ich bin lieber allein auf der Pirsch. Mein Ding wäre es eher, eine Eigenjagd in einem gut bestückten Revier zu pachten.«
Nadja Künzel hielt seinem Blick stand. »Ich werde mal schauen, was sich da machen lässt.«
Doktor Meyerhoff räusperte sich. »Bei Vertragsunterschrift würde ich mich natürlich erkenntlich zeigen.«
Nadja Künzel nickte. »Natürlich.«
Doktor Meyerhoff rieb sich zufrieden die Hände. Um diesen lang gehegten Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen, würde er viel geben. Vielleicht sogar alles. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste. Wer weiß, wie lange er die Jagdbüchse noch führen konnte.
Nadja Künzel griff nach ihrem Handy. »Ich informiere die Kollegen, damit einer von ihnen vorbeikommt und den Hirsch möglichst schnell aufbricht. Ich nehme an, dass Sie auch am Wildbret interessiert sind?«
Doktor Meyerhoff winkte ab. »Mir geht es um das Geweih. Machen Sie mit dem Fleisch, was Sie wollen.«
Nach dem Telefonat ließen sie den Hirsch am Waldrand liegen und stiefelten zurück zum Pick-up. Nadja Künzel zog eine Kühltasche von der Rückbank hervor.
»Ich habe ein kleines Picknick vorbereiten lassen. Damit wir Ihren Erfolg gebührend feiern können.«
»Wie aufmerksam von Ihnen.« Doktor Meyerhoff fühlte sich sichtlich gebauchpinselt.
Nadja Künzel breitete eine grüne Tischdecke auf dem hinteren Teil der Ladefläche aus und richtete die mitgebrachten Köstlichkeiten darauf an. »Alles feinste Häppchen von heimischem Wild. Dazu nach alter Odenwälder Tradition gebackenes Sauerteigbrot. Der Bratkartoffelsalat ist übrigens ein Gedicht!«
Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte gestern reichlich Kostproben genießen dürfen. Der Aushilfskoch des Cateringunternehmens, welches das Forstamt Odenbrunn bei solchen Anlässen bemühte, hatte sich als wahrer Künstler am Herd erwiesen. Außerdem war er äußerst charmant und zuvorkommend. Und hatte es geschafft, dass Nadja mehr von sich preisgegeben hatte als beabsichtigt. Vielleicht, dachte sie, während sie dicke Scheiben vom Brot abschnitt, sollte sie den Flirt von gestern in Kürze fortsetzen. Eigentlich stand sie nicht auf Männer, die ein paar Kilos zu viel mit sich herumschleppten. Aber der Aushilfskoch hatte ein bisschen was von Balu, dem Bären aus dem Dschungelbuch. Ein Typ zum Knuddeln.
Nadja Künzel gab einen Schuss vom im Eichenfass gereiften Apfel-Obstbrand in zwei Schnapsbecher aus Edelstahl und prostete ihrem Jagdgast zu. »Möge das Jagdglück Ihnen hold bleiben!«
Doktor Meyerhoff kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. »In diesem Sinn bis demnächst?«
Nadja Künzel lächelte. »Bis