Odenwaldjagd. H. K. Anger
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Als Tina den alten Subaru vom Atzeldoalhof auf dem Wanderparkplatz unterhalb des buddhistischen Klosters »Buddhas Weg« erblickte, ließ sie von der malträtierten Unterlippe ab und setzte ein Lächeln auf. Vielleicht würde es Charlie schaffen, sie für ein paar Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Tina brachte ihren Geländewagen neben dem Subaru zum Stehen.
Charlie umarmte die Freundin aus Schultagen stürmisch. Sie hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald vor einem Jahr wiedergetroffen und wäre beinahe in die Wohnung der Patentante von Tinas Mann Peter eingezogen. Doch dann hatte Charlie sich entschieden, auf dem Atzeldoalhof zu bleiben. Mit Tina traf sie sich seither regelmäßig. »Danke, dass du gekommen bist! Ohne dich würde ich bestimmt wieder kneifen.«
Tina warf einen Blick auf Charlies blauen Rucksack, an dem außen eine Wasserflasche befestigt war. »Du meinst das wirklich ernst?«
Charlie steckte sich eine Strähne ihres rotblonden Haars hinter das rechte Ohr. »Nach der Passform meiner Klamotten zu urteilen, habe ich nur die Wahl: entweder ab sofort Nulldiät oder mehr Bewegung, um die Kalorien abzuarbeiten.«
Tina musterte Charlies adrett in der Jeans sitzenden Po und verglich ihn insgeheim mit ihrer Hinterpartie. »Na, deine Probleme möcht ich haben!«
Charlie seufzte. »Ich kann Gertie doch nicht dauernd brüskieren! Die ist vorhin schon aus allen Wolken gefallen, als ich nach Knäckebrot gefragt habe. Aber wenn sie mich weiter so mästet, muss ich mir demnächst eine komplett neue Garderobe zulegen. Dazu habe ich weder das Geld noch die Zeit. Und außerdem hasse ich es, halb nackt in diesen engen Umkleidekabinen zu stehen, wo dauernd eine übereifrige Verkäuferin den Vorhang aufreißt.«
Tina grinste. »Versuch’s doch mal mit Zalando!«
Charlie schnaubte. »Um das Gelieferte vor der versammelten Herrenriege des Atzeldoalhofes zur Schau zu stellen? Never ever!«
»Tja«, Tina zuckte mit den Schultern. »Dann müssen wir uns wohl auf die Socken machen. Ich hatte insgeheim gehofft, dass ich dich dazu überreden könnte, es uns im Teehaus bei leckerem Cappuccino und Kuchen gutgehen zu lassen.«
Charlie blickte hinauf zum Gebäudekomplex der vormaligen Fachklinik am Hardberg, die Anfang 2010 von einer buddhistischen Klostergemeinschaft übernommen worden war. Die ehemaligen Klinikzimmer beherbergten seitdem nicht nur die Klostergemeinschaft aus Mönchen und Nonnen, sondern auch Gäste, die die im Seminarhaus angebotenen Workshops und Kurse besuchten. Das frühere Schwimmbad war zum Teehaus umgebaut worden. Charlie kam sichtlich ins Schwanken. »Ich war noch nie dort.«
»Der selbst gebackene Kuchen ist eine Wucht«, erwiderte Tina. Dann runzelte sie die Stirn. »Ich glaub aber, dass sie erst nachmittags aufmachen. Für die Teestube sind wir zu früh dran.«
»Schade.« Charlie schulterte ihren Rucksack.
»Ja.« Tina schaute sehnsüchtig zum Kloster hinauf. »Ein bisschen was im Magen würde mir guttun. Ich bin heute gar nicht dazu gekommen, etwas zu frühstücken. Erst habe ich Peter beim Schlachten geholfen und dann kam dein Anruf.«
»Oh Mann, das tut mir leid.« Charlie war aufrichtig zerknirscht. »Außer dem Wasser und einer Packung Kaugummi habe ich nichts eingepackt.« Plötzlich hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf. »Hey, der Kiosk am Sportplatz hat bestimmt geöffnet! Von hier aus sind es nur ein paar Schritte.«
»Ja, aber dort hat es vor ein paar Wochen gebrannt. Stand in der Zeitung. Ein defektes Kabel hat hohen Sachschaden verursacht.«
»Das ist jetzt echt blöd.« Charlie zog einen Flunsch. »Ich möchte nicht schuld sein, dass du mir am Berg wegen Unterzuckerung aus den Latschen kippst.«
»Ach was, ich komme schon klar. Ist Intervallfasten nicht eh total angesagt?«
»Wie du meinst.« Charlie setzte sich in Bewegung.
Tina hastete hinter der Freundin her. Dann stoppte sie abrupt. »Warte mal! Mir ist gerade eingefallen, dass für die Zeit der Renovierungsarbeiten am Kiosk ein Imbisswagen aufgestellt wurde. Lass uns schauen, ob wir dort wenigstens ein paar Müsliriegel bekommen!«
»Was darf es denn sein, meine Damen?« Der Mann hinter der Verkaufstheke des Imbisswagens schenkte den beiden Freundinnen ein strahlendes Lächeln.
»Haben Sie Müsliriegel?« Charlie musterte die herzhaft-deftigen Auslagen der Kühltheke und die Bierschankanlage.
Das Lächeln des Mannes wurde noch eine Spur breiter, wodurch sich an den Mundwinkeln Grübchen bildeten. »Stehen Sie mehr auf gesundes Körnerfutter oder darf es was Leckeres sein? Ich habe Riegel mit Kokosflocken, Schoko-Trüffelkern und weißen Schokotropfen. Die schmelzen Ihnen auf der Zunge. Ein Gedicht!«
»Vier Stück davon«, sagte Tina wie aus der Pistole geschossen.
Charlie seufzte innerlich, blieb aber standhaft. »Ich hätte gern eine Packung Studentenfutter.«
Der Mann, dem Charlies Rucksack nicht entgangen war, nickte. »Eine gute Wahl für unterwegs. Die Trockenfrüchte und Nüsse verschaffen Ihnen den notwendigen Energieschub, ohne zu belasten.«
Charlie nahm die Packung entgegen und verstaute sie im Rucksack.
»Darf ich Ihnen sonst noch zu Diensten sein?«, fragte der Betreiber des Imbisswagens. Mit der Hand strich er sich den dunkelbraunen Pony zurück, der ihm immer wieder in die Augen fiel. Für einen Mann seines Alters hatte er erstaunlich volles Haar, dachte Charlie.
»Ich weiß nicht …« Tina kämpfte gegen ihren inneren Schweinehund.
Was dem Mann hinter der Verkaufstheke nicht entging. »Warum setzen Sie sich nicht an einen der Tische? Die Sonne scheint heute so herrlich! Ich bringe ihnen in Nullkommanichts eine Tasse Kaffee und eine meiner Spezialitäten: mit knusprigem Frühstücksspeck umhülltes Rührei. Die Eier dafür kommen von den glücklichen Hühnern meiner Nachbarin. Fleisch kaufe ich nur in Bioqualität. Und die Wildkräuter zum Würzen habe ich heute früh auf dem Weg hierher frisch gepflückt.«
Auf Tinas Gesicht machte sich ein verträumtes Lächeln breit.
Auch Charlie fand, dass die blau lackierten Bistrotische und -stühle sehr einladend aussahen. Die Keramiktöpfchen mit Lavendelpflanzen und die kleinen Windlichter versprühten französischen Charme. »Okay, dann zweimal glückliches Rührei vom Hardberg«, willigte Charlie ein.
»Kommt sofort!«, versicherte ihnen der Mann mit der großen, ein wenig altmodisch anmutenden Brille.
»Sie haben außer Butter noch frische Sahne an die Eier getan, nicht wahr?«, fragte Tina, als der Mann ihre blitzblank leer geputzten Teller abräumte.
»Ertappt!« Der Imbissbetreiber versuchte, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Was ihm kläglich misslang.
»Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch!«, rief Tina aus. »Ich wollte damit sagen, dass ich ein so perfektes Rührei lange nicht mehr gegessen habe. Die meisten rühren H-Milch oder, noch schlimmer, Kondensmilch unter die Eier.«
Der Mann legte seine rechte Hand auf die Brust. »So ein Gemansche gibt es bei mir nicht. Ich koche ehrlich. Mit frischen und natürlichen Zutaten.«
Charlies Gesichtsausdruck spiegelte Verwunderung wider. »Ich hätte nicht damit gerechnet,