Operation Werwolf - Ehrensold. Uwe Klausner
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Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Von nun an, beginnend mit dem heutigen Tag, wusste sie, was es bedeutete, auf sich allein gestellt zu sein. Allein zu sein mit einem Monstrum, das nur eins im Sinn zu haben schien.
Nämlich ihr Gewalt anzutun. Um sie im Anschluss an die Tortur zu töten.
Das sechste Mordopfer in Folge. Opfer eines Mannes, der Berlin in Angst und Schrecken versetzte.
Jetzt war sie an der Reihe.
Gerade mal 17, beinahe noch ein Kind.
Behaupteten zumindest ihre Eltern. Sie selbst war da natürlich anderer Meinung. Und das mit vollem Recht. Gut gebaut war sie nämlich schon, den Freundinnen weit voraus. Gut gebaut, nicht auf den Mund gefallen und fast schon dunkelhäutig, wie Rosita Serrano, die chilenische Nachtigall. Ein echter Hingucker, der Schwarm aller Jungs in ihrem Viertel.
Doch all das war Schnee von gestern, nicht mehr als eine vage Erinnerung.
Zur falschen Zeit am falschen Ort. Mehr brauchte es nicht, um zum hilflosen Opfer einer Bestie zu werden. Um mit Lichtgeschwindigkeit zu altern, für immer gebrandmarkt, gedemütigt und von schier endlosen Albträumen geplagt.
Und das alles nur, weil der Zufall es so wollte. Dem es gefiel, sie einem Monstrum zum Fraß vorzuwerfen. Einem Monstrum, das es nicht verdiente, als Mensch betrachtet zu werden. Das keine Skrupel besaß und dessen Ziel allein darin bestand, sie zu töten.
Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Und die Hölle auf Erden war perfekt.
Der Teufel, so das beklemmende Fazit, war keine abstrakte Figur, ein bloßes Schreckgespenst, verantwortlich für alles Leid, das einem widerfuhr. Der Teufel war real, ein Mensch wie du und ich, eine Gestalt aus Fleisch und Blut.
Darin geübt, in das Gewand eines Biedermannes zu schlüpfen.
Und so perfide, dass er alles bisher Dagewesene übertraf.
Zur falschen Zeit am falschen Ort. So abgedroschen die Floskel klang, sie traf den Nagel auf den Kopf.
Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Der Abend, an dem sie in ihr Unglück lief, war brütend warm gewesen, die Luft so feucht wie in den Tropen. Laut Wetterbericht würde die Hitze bleiben, zumindest bis übermorgen, wenn es schlecht lief, sogar noch länger. Da kam Freude auf, vor allem dann, wenn man mit der S-Bahn fuhr. Temperaturen wie im Treibhaus, die Sonne grell wie Blitzlichtgewitter. Und dazu eine ganze spezielle Duftnote, nämlich S-Bahn-Mief vom Feinsten. Die Holzbänke, von denen der Lack schon beim Hinsehen abblätterte, nicht zu vergessen.
Doch egal wie, da musste sie durch.
Mehr als die dritte Klasse war nun mal nicht drin. Kein Wunder, wenn man die paar Groschen, die ihr Vater am Ersten rüberwachsen ließ, mit einem Verehrer im Lunapark verjubelte.
Willkommen im Abteil für Arme, ein Güterwaggon war nichts dagegen. In der zweiten Klasse, das zum Thema knapp bemessenes Taschengeld, wäre sie wesentlich besser dran gewesen. Und außerdem, in Gesellschaft reiste es sich viel besser. Ein bisschen Tratsch konnte bekanntlich nicht schaden, redselige Mitfahrerinnen vorausgesetzt. Wozu auch Zeitung lesen, das brachte doch sowieso nichts. Propaganda, dass sich die Balken bogen, Siegesmeldungen aus wer weiß welchem russischen Kaff, Ordensverleihungen am Fließband, die ewigen Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, mehr war nicht. Was die Leute wirklich interessierte, danach fragte doch kein Mensch.
Immer noch keine Mitfahrer, einfach zum Gähnen. Und von wegen spazieren gucken, das konnte sie sich abschminken. Die Verdunkelungsrahmen waren nun mal Pflicht, wenngleich so überflüssig wie ein Kropf. Ein handtellergroßes Loch, um während der Fahrt aus dem zugeklebten Fenster zu kieken, welch ein Komfort. Ein Gefühl wie im Aquarium, für Zierfische wärmstens zu empfehlen.
Und was die Engländer betraf, vor denen brauchte man keine Angst zu haben. Die standen mit dem Rücken zur Wand, und anstatt sich Gedanken über Luftangriffe zu machen, hatten die Berliner andere Sorgen. Bei der Versorgung haperte es am meisten, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen. Und beim Angebot in den Kaufhäusern ja wohl auch. Von der Hitze, derentwegen sich ihre Bluse wie ein klitschnasses Handtuch anfühlte, nicht zu reden.
Da lobte sie sich doch die U-Bahn, dort war es wenigstens nicht so heiß. Und weniger gefährlich ja wohl auch. Es sei denn, man hatte das Pech, einem Sittenstrolch zu begegnen. Ihre Mutter konnte ein Lied davon singen, war sie doch gleich mehrfach rüde begrapscht worden, zuletzt vor ein, zwei Monaten, auf dem Weg zu ihrer Tante in Friedrichshain. Mittlerweile hatten sich die Zeiten jedoch geändert, und wer sich oder seine Pfoten nicht in den Griff bekam, mit dem wurde kurzer Prozess gemacht. Im Vorbeigehen mal eben ein bisschen rumfingern, weil sich der Pavian im Mann zu Wort meldete, die Zeiten waren ein für alle Mal vorbei. Auf Sittlichkeitsdelikten stand KZ, und wie man hörte, herrschten dort ziemlich raue Sitten.
Quer durch Berlin mit der S-Bahn, bei der Hitze nun wahrlich kein Vergnügen. Kein Wunder also, dass ihr vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, zwar nur für ein paar lächerliche Sekunden, aber lange genug, um nicht auf der Hut zu sein. Im Nachhinein kamen sie ihr jedoch wie Stunden vor, von Mal zu Mal zahlreicher, je öfter sie sich den Horror ins Gedächtnis rief.
Horror.
Eine fast schon verharmlosende Bezeichnung für das, was sie in den folgenden Minuten durchlitt. Auch jetzt, eine gefühlte Ewigkeit später, hing ein unsichtbarer Schleier vor ihrem Gesicht. So verzweifelt sie auch dagegen ankämpfte, sie erkannte sich selbst nicht wieder. Es schien, als stecke sie in einem fremden Körper, zusammengekauert wie in einem Käfig, aus dem es kein Entkommen gab. Hätte sie in den Spiegel geschaut, sie wäre zu Tode erschrocken, so rasant hatte sie sich verändert. Um 10 Jahre gealtert, und das in 100 Sekunden, wie aus dem Nichts in die Welt der Erwachsenen katapultiert. Zeitlebens würde sie den Schock, der sie durchfuhr, nicht verdauen. Die Blessuren am ganzen Körper, der lähmende Schmerz, intensiv wie ein Stromstoß von mehreren Hundert Volt, die Scham, überall am Körper berührt zu werden, der Ekel, als ihr der Widerling zwischen die Schenkel griff, die Wut, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, der Wunsch, der Unbekannte werde dafür büßen: Die Hölle war kein imaginärer Ort mehr für sie, sie existierte wirklich.
Und der leibhaftige Satan auch.
Dabei ging alles auf ihre Kappe, die Polizei traf keine Schuld. Hätte sie sich nicht heimlich mit ihrem Freund getroffen, sie wäre spätestens um sechs zu Hause gewesen. Um die Zeit war es ja noch hell, und überhaupt, was konnte ihr denn schon passieren. Dachte sie zumindest. Polizei an allen Ecken und Enden, sowohl uniformiert als auch in Zivil, Kontrolleure der BVG und zu guter Letzt die selbstherrlichen Beschützer der SA, die sich aufspielten, als ob sie Graf Koks von der Gasanstalt wären.
Alles unter Kontrolle?
Von wegen.
Aber wehe, wenn man jemanden brauchte. Wenn man sich zur Wehr setzte, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Wenn es sich so anfühlte, als sei der Tod, an den man sonst keinen Gedanken verschwendete, nur eine Frage von Minuten, wenn nicht von ein paar lächerlichen Sekunden.
Dann erlebte man sein blaues Wunder.
Denn dann war man auf sich allein gestellt, und das mit gerade mal 17 Jahren.
Von aller Welt verlassen, nur sie und das Scheusal, von dem man sich Dinge erzählte, bei denen ihre