Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach

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Tod unterm Nierentisch - Alida Leimbach

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Straßenbahnführer drosselte das Tempo, leierte das Fenster herunter und brüllte ein paar derbe Schimpfwörter. Auch das Vierergespann, das direkt vor ihnen herfuhr und Bierfässer transportierte, war aus dem Takt geraten. Die Pferde wieherten und brachen aus. Der Bierkutscher hatte Mühe, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen.

      Auf der Höhe des Königlichen Realgymnasiums, in dem Conradi die letzten Jahre seiner Schulzeit verbracht hatte, zockelte die Bahn in einem gemächlichen Tempo weiter. Das Gespann mit den vier kräftigen Friesen war in die Bergstraße zur Brauerei abgebogen. Der kräftige Malzgeruch des Osnabrücker Bergquellpilseners wehte für einen Moment durch die gekippten Fenster und weckte Conradis Lust auf ein Feierabendbier.

      Kurz hinter Feinkost Remme vertiefte er sich in die Osnabrücker Tagespost. Er wollte die Ruine nicht sehen, konnte es nicht ertragen, dass sein früheres Glück nur noch aus einem Haufen Steine bestand. Ein einziges Mal war er noch an dieser Stelle gewesen, kurz nach seiner Ankunft in Osnabrück vor etwa fünf Wochen, hatte vor den Trümmern gestanden, die Augen geschlossen und wie ein kleines Kind gebetet, dass alles lediglich ein Albtraum war. Erst als ihm schwindlig wurde, fasste er sich ein Herz, näher heranzutreten. Seine alte Wohnung lag im Erdgeschoss. Der früher gepflegte Rasen im Vorgarten war von Disteln und Unkräutern überwuchert. Fenster und Türen waren kaputt und notdürftig mit Pappe vernagelt, Möbel gab es kaum noch, die brauchbaren waren offenbar geplündert worden, aber die Tapeten … zumindest die Reste davon … Ihm war es gelungen, an jedem Fenster ein Stück Pappe zu entfernen. Am meisten schmerzte die bunte Kindertapete mit dem Schneewittchen-Motiv. Er konnte kaum hinsehen, musste seine aufsteigenden Tränen unterdrücken. Auch das Badezimmer mit den schwarzen Fliesen weckte Erinnerungen in ihm. Im rosafarbenen Handstein hatte seine Frederike vor Jahren das Baby gebadet. Es hatte gejuchzt und mit Ärmchen und Beinchen gestrampelt. Nur beim Herausnehmen aus dem herrlich warmen Nass hatte es mit Geschrei protestiert. Ruhe stellte sich erst wieder ein, als Frederike es in ein auf dem Ofen vorgewärmtes Badetuch wickelte, herzte und küsste. Jeden Sonnabend heizten sie den hohen Kupferboiler an, um nacheinander in der freistehenden Badewanne ein Vollbad zu nehmen. Als Lilly größer wurde, durfte sie als Erste rein. Dann gab es Abendessen, zu dritt in der Wohnstube mit der hellen Streifentapete. Während Frederike die Kleine zu Bett brachte, machte er Feuer im Kamin. Der Anblick des ursprünglich weinroten Sofas mit der geschwungenen Holzlehne, auf dem er beim gemütlichen Licht der Stehlampe mit Frederike gesessen, Radiomusik gehört und gelesen hatte, während sie handarbeitete, war fast unerträglich. Schutt lag auf dem Sofa, zerschlissen war der Stoff, zerbrochen die Holzumrandung, vor lauter Dreck war die Farbe undefinierbar geworden, sah nun eher aus wie braungrau. Dann das Zimmer zum Osten hin mit der Veilchentapete … Sein Herz machte einen Satz. Oft hatten sie sich am späten Abend in dem großen massiven Ehebett geliebt. Die Schlafzimmermöbel hatte Frederike von ihren Großeltern geerbt, aber die zartblaue Tapete hatten sie gemeinsam ausgesucht. In Fetzen hing sie von der Wand und erinnerte an eine glücklichere Zeit. Möbel waren nicht mehr vorhanden, bis auf einen Schemel mit drei Beinen. Es zerriss etwas in ihm, das alles in diesem Zustand zu sehen und endgültig Abschied zu nehmen. Er hatte versucht, noch einmal, ein letztes Mal, in die Wohnung zu gelangen und einen Gegenstand zu retten, ein Erinnerungsstück, aber es hatte keinen Zweck – die wenigen Sachen, die noch da waren, waren unbrauchbar geworden, und er wollte sie ohnehin eigentlich gar nicht. Nicht nur das Haus war ein Trümmerhaufen, sondern auch der alte Hühnerstall im Garten, in dem Lilly vor dem Abendbrot mit Begeisterung Eier gesucht hatte. Die Erinnerung an unbeschwerte Tage war fast körperlich greifbar, und er fühlte einen bohrenden Schmerz, der wie ein Messer in seine Brust schnitt. Nicht nur das Haus, sondern sein Leben war ein Trümmerhaufen.

      Damals hatte er nicht geahnt, dass die Zeit mit Frederike und Lilly die schönste in seinem Leben gewesen war. Der Höhepunkt auf seiner Lebensleiter war sang- und klanglos verstrichen, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Sie hatten es schön miteinander gehabt, eine gute Zeit, aber viel zu kurz. Vorbei, es war vorbei. Johann Conradi hätte gerne an der Uhr gedreht, alles auf Anfang gesetzt und jeden Tag, jede Stunde und jede Minute zurückgeholt. Nun blieb ihm nur, die Augen zu schließen und seinen Kopf wegzudrehen, wenn die Straßenbahn die frühere Adresse passierte.

      Ich kann nicht mehr lieben, dachte er, mein Herz ist tot, und das ist kein Wunder. Ich bin einsam, wie ich es noch nie in meinem Leben war, und ich werde für immer einsam bleiben.

      Sein neues Zuhause war nur eine Haltestelle entfernt. Es fiel ihm wieder ein, dass er Geburtstag hatte, knapp zwei Stunden noch. Viel Zeit blieb ihm nicht, um noch etwas daraus zu machen. Er war allein und sah keinen Grund zu feiern. Vielleicht wäre es bei sommerlichen Temperaturen einfacher gewesen.

      An der Haltestelle Depot stieg er aus. Am Kiosk kaufte er nicht nur die Abendzeitung wie gewöhnlich, sondern außerdem eine kleine Flasche Kupferberg Gold, eine Tafel Schokolade und eine Zigarre. Hinter ihm wartete eine Frau, die damals mit Mann und Kind auf der gleichen Etage gewohnt hatte. Er lupfte seinen Hut, wusste aber nicht, was er sagen sollte, und wollte auch nichts sagen. Sie schaute ihn unter ihrem schwarzen Regenschirm verdutzt an, grüßte aber nicht zurück. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht erkannt. Kein Wunder, er war lange nicht in seiner Heimatstadt gewesen.

      Während er die Lotter Straße entlangschlenderte und der Regen ihm in den Kragen rann, fragte er sich, ob ihm seine Wirtin etwas vom Abendessen übriggelassen hatte. Ob sie an die Buttercremetorte gedacht hatte? Lieber wäre ihm ein Schokoladenkuchen, aber das hatte er sich nicht zu sagen getraut.

      9. Kapitel

      In Hedwig Westermanns Wohnung brannte noch Licht. Die Witwe ging selten vor Mitternacht zu Bett, oft wartete sie noch auf ihn und freute sich über seine Gesellschaft und die Möglichkeit, vor dem Schlafengehen gemeinsam einen Eierlikör zu trinken. Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, stand sie schon im Flur, wie immer in ihrer schwarzen Witwentracht. Die dünnen weißen Haare hatte sie zu einem Kranz geflochten und um den Kopf gelegt. Ihre Augen lachten hinter den kleinen runden Brillengläsern.

      »Endlich sind Sie da, Geburtstagskind, ich warte seit Stunden auf Sie! Herzlichen Glückwunsch, lieber Herr Inspektor Conradi!«

      Sie führte ihn in die Küche. Auf dem gescheuerten Holztisch stand ein Gugelhupf mit vier Kerzen und sieben Pralinen. »Die Kerzen stehen für jedes Lebensjahrzehnt«, sagte sie und zündete sie an. »Die Pralinen für die Jahre dahinter. Dann passt das!«

      Es duftete nach Kohlrouladen. Stundenlang musste sie das Essen auf dem Herd warmgehalten haben. Conradi lief das Wasser im Munde zusammen. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die feuchten Augen und schüttelte immer wieder den Kopf. »Frau Westermann«, sagte er gerührt, »dass Sie daran gedacht haben!«

      »Natürlich! Ihren Geburtstag habe ich in meinem Kalender notiert! Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich nicht auf Sie gewartet habe. So spät würde mir das Essen nicht bekommen. Nun setzen Sie sich aber fix hin, bevor die Kohlrouladen noch zerfallen.«

      Er ließ sich auf dem knarzenden Holzstuhl nieder und sie bediente ihn. »Mussten Sie unbedingt vor dem Essen rauchen?« Angewidert rümpfte sie die Nase.

      »Ich bekenne mich schuldig«, sagte er lachend und wischte sich verstohlen eine Träne weg. »Aber ich konnte nicht ahnen, was mich zu dieser späten Stunde erwartet.« Der Tisch war hübsch gedeckt, feines Porzellan, kristallgeschliffene Weingläser, gestärkte Stoffservietten, frische Nelken in einer Vase.

      »Ich weiß ja, wie Ihnen heute zumute ist«, meinte sie und schenkte ihm Rotwein ein, wenn ihm auch Bier lieber gewesen wäre. »An solchen Tagen denkt man immer an die Menschen, die nicht mehr da sind. Das geht mir mit meinem Karl-Heinz auch so. Besonders schlimm ist es an Weihnachten. Da denke ich nicht nur an ihn, sondern auch an meine lieben Eltern. Ich träume davon, wie schön es doch wäre, wenn wir alle wieder in der guten Stube beieinandersäßen! Aber, Herr Conradi, das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Was sollen wir machen, jammern hilft nicht, wir müssen da durch. Vermissen Sie Ihre Frau

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