Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tod unterm Nierentisch - Alida Leimbach страница 20
*
Als die anderen Familienmitglieder längst ins Bett gegangen waren, saßen Bettine und ihre Mutter im Wohnzimmer bei einem Glas heißer Milch mit Honig beisammen. Das Licht war gedämpft und die Radiostation sendete ruhige Musik zur Nacht.
»Mutti, ich frage mich, ob es nicht Vater gewesen sein kann. Er muss Rolf doch gehasst haben! Stell dir mal vor, wie es dir gehen würde, wenn du nach langer Zeit nach Hause zurückkehrst, und dann ist da ein anderer Mann, nein, eine andere Frau bei deinem Mann, ich komme ganz durcheinander. Wie würde es dir da ergehen?«
Lieselotte schwieg und zupfte an ihren manikürten Fingernägeln. »Natürlich nicht gut«, sagte sie leise.
»Siehst du, und Vater ging es sicher ähnlich, als er das mit dir und Rolf erfahren hat! Kannst du dir vorstellen, wie groß seine Wut gewesen ist? Du hast seine Hoffnung zerstört und damit sein Leben!«
Lieselotte schluckte. Harte Linien traten in ihrem Gesicht hervor.
Bettine setzte sich aufrecht hin. »Was willst du eigentlich, Mutti? Möchtest du, dass Vater zurückkommt und wieder bei uns lebt?«
»Nein, auf keinen Fall. Das ist alles zu lange her. Ich habe mich richtig entwöhnt nach so langer Zeit, er ist mir fremd geworden.«
»Mir auch«, gab Bettine seufzend zu. »Ich habe ihn überhaupt nicht wiedererkannt, als er plötzlich im Laden stand. So hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Er sah aus wie ein Bettler oder Hausierer. Ich wollte ihn nicht einmal bedienen, so abstoßend fand ich ihn!«
»Ja, so sehen Kriegsheimkehrer nun einmal aus. Sie haben jahrelang nicht genug zu essen bekommen und konnten Krankheiten nicht richtig auskurieren, das hinterlässt Spuren. Ein wöchentliches Vollbad war sicherlich auch nicht drin. Und was sie erlebt haben, an der Front und in der Gefangenschaft, darüber sprechen sie nicht. Es müssen grauenhafte Dinge gewesen sein. Deswegen wissen wir Frauen gar nicht, wie ihnen zumute ist und warum sie so merkwürdig geworden sind. Frau Huber und Frau Ritter erzählen das Gleiche von ihren Männern. Sie erkennen sie nicht wieder, vom Aussehen her nicht und auch nicht vom Wesen. Am liebsten würden sie sich scheiden lassen.«
Nachdenklich trank Bettine einen Schluck Milch und wischte sich anschließend den Mund ab. »Was meinst du, wird die Polizei ihn vernehmen?«
»Ich weiß es nicht. Es tut mir leid für ihn und ich habe Schuldgefühle ihm gegenüber. Lassen wir ihn am besten in Ruhe.«
Bettine warf fast ihr Glas um. »Wie meinst du das, was verstehst du unter Ruhe?«
»Wir müssen nicht unbedingt erwähnen, dass Otto wieder da ist, oder? Nur wir beide wissen davon und Oma. Aber ihr ist klar, wann sie den Mund zu halten hat. Die kennt sich aus mit Obrigkeiten.«
»Wenn du meinst …«
»Auch Karl brauchst du es nicht zu sagen, wer weiß, wie er damit umgeht. Nachher zieht es ihn zu Vater hin, die beiden hatten früher ein besonderes Verhältnis. Das will ich nicht. Auf keinen Fall. Und Karin und Peter kennen ihn nicht einmal. Für sie ist er ein Fremder. Ich will das alles nicht, es überfordert mich. Wäre er bloß nicht wiedergekommen!«
»Gut«, sagte Bettine, »machen wir es so, wie du willst.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Der Wellensittich im Käfig schlief längst, und die Wanduhr schlug zur halben Stunde. »Komm, Kind«, sagte Lieselotte, »trink deine Milch aus und dann gehen wir in die Falle. Es ist weit nach Mitternacht durch, halb eins schon. Morgen steht uns ein anstrengender Tag bevor, ich muss Karl auf die Polizeiwache begleiten.«
Bettine rieb sich die Augen, stand auf und stellte das Radio aus.
*
Liebe Frederike,
meinen Geburtstag habe ich halbwegs überstanden. Nun ist er zum Glück vorbei, es ist halb eins in der Nacht, und er war nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Natürlich grummelt mein Magen von der Buttercremetorte, aber ich bin heimlich an Frau Westermanns Medizinschränkchen gegangen und habe etwas von ihren Hoffmannstropfen genommen.
Trotzdem geht es mir nicht gut. Du fehlst mir, Fredi, und wie du mir fehlst! Ich dachte, es würde irgendwann aufhören oder zumindest besser werden. Es heißt ja, die Zeit heile alle Wunden. Aber für mich ist das Gegenteil der Fall, es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich fühle mich wie in zwei Teile zerbrochen, seit du aus meinem Leben verschwunden bist. Du warst für mich der wichtigste Mensch, mein Lebensmittelpunkt. Allein bei dir zu sein war genug, mehr brauchte ich nicht zum Glücklichsein. Ich fühlte mich wohl mit dir zusammen in der winzigen Küche, am warmen Ofen, vor dem wir gegessen und geplaudert haben.
Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben, daran musste ich gerade heute wieder denken. Wir saßen unter der Petroleumlampe, weil der Strom ausgefallen war, und haben Krabben gepult, weißt du noch? Das heißt, ich habe dir gezeigt, wie es geht, denn du konntest nichts damit anfangen, wusstest nicht einmal, wie die Dinger schmecken und ob du sie magst. Und sie schmeckten dir himmlisch! So oft musste ich sie dir danach von Remme mitbringen, und bald konntest du sogar schneller pulen als ich.
Ich vermisse dich so, meine Zauberfrau. Als ich dich das erste Mal sah, wie du zwischen den Kaffeetischen im Schweizer Haus hin und her gingst, auf der Suche nach einer Freundin, mit der du verabredet warst, wusste ich sofort, dass ich dich eines Tages heiraten würde. All meinen Mut habe ich zusammengenommen und dich angesprochen, dir meine Karte gegeben. Eine Woche später hast du mir einen kurzen Brief geschrieben. Alles war gleich klar zwischen uns. Ein Leben ohne den anderen war fortan nicht mehr möglich.
Lilly war dann die Krönung für unser Glück. Sie hat uns mit ihrer Leichtigkeit und Fröhlichkeit angesteckt. Du ahnst nicht, wie sehr auch sie mir fehlt.
Als wir uns das letzte Mal sahen, warst du verzweifelt. Du brauchtest neue Schuhe für die Kleine, weil ihre Füße so schnell gewachsen waren. Es gab nirgendwo welche, es gab in den Geschäften überhaupt nichts mehr zu kaufen. In den Schaufenstern standen Pappschilder oder es fanden sich nur alte, gebrauchte Sachen zum Tauschen darin. Du hast schließlich Schuhe für Lilly gefunden, die ihr noch viel zu groß waren. Es ging nur mit drei Paar Socken übereinander. Dafür hast du schweren Herzens einen Ring und eine Brosche deiner Großmutter hergegeben. Wenn du wüsstest, wie voll die Geschäfte nun wieder sind, wie prächtig die Auslagen der Schaufenster, wie groß die Augen der Passanten, die davorstehen.
Du fehlst mir so, Fredi. Deine Güte und Milde fehlen mir, deine warmen Augen, dein sinnlicher Mund, deine Grübchen, wenn du lachst, deine weiche Haut, deine schönen Kurven, deine zärtlichen Hände.
Mit dem Gedanken daran schlafe ich nun ein, traurig und ein wenig getröstet zugleich. Dein dich liebender Johann
10. Kapitel
Donnerstag, 24.06.1954
Vor ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee, die ihm seine Sekretärin Irmgard Zerhusen gebracht hatte. Johann Conradi schätzte sie auf Anfang 60, eine fleißige, ehrgeizige Frau. Er bewunderte ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten in Stenografie und auf der Schreibmaschine. Vor wenigen Wochen hatte sie an einer Meisterschaft im Stenografieren teilgenommen, die die Industrie- und Handelskammer ausgeschrieben hatte. Die IHK hatte kürzlich ihren Standort am Neuen Graben bezogen, nachdem das alte Gebäude 1944 ausgebombt worden war, und sorgte durch spektakuläre Aktionen wie den Wettbewerb