Westfalengau. Hans W. Cramer
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Erschrocken wandte er sich seiner Frau zu. »Fährst du allein dahin?«
Überrascht sah sie ihn an. »Natürlich. Wer sollte denn mitkommen. Unsere Kleine ist nicht da, und du wirst ja wohl gleich in die Praxis müssen.« Sie lachte. »Machst du dir etwa Gedanken darüber, wie ich die Sachen ins Auto bekomme? Keine Sorge! Ich will nur ein paar Kleinigkeiten besorgen.«
»Ach, weißt du, ich glaube, ich habe heute Morgen gar nicht so viele Termine. Lass mich schnell anrufen, dann komme ich einfach mit. Was hältst du davon?«
»An einem Montagmorgen? Ich bitte dich! Was sollen denn die Patienten sagen? Sag mal, warum guckst du denn so besorgt? Ist irgendwas, was ich wissen sollte?«
»Nein, nein. Lass mich nur machen!« Damit stand er abrupt auf und verschwand im Arbeitszimmer. Nur wenige Augenblicke später erschien er mit einem strahlenden Grinsen auf dem Gesicht wieder in der Küche. »Alles klar! Ich komme mit«, verkündete er fröhlich. »Ich ziehe mich eben um.«
Nur wer ihn sehr gut kannte, hätte gemerkt, dass dieses Grinsen reichlich gekünstelt wirkte und etwas ganz anderes dahinter steckte. So wie seine Frau, die sich aber nur wunderte und keine Ahnung hatte, was das sein könnte.
Wenige Minuten später saßen sie in ihrem Suzuki Jimny, den sie für solche Einkäufe immer am liebsten nahm. Sie fuhren Richtung Schwerte, wo sie auf die A1 wechseln wollten. Der schnellste Weg nach Kamen, wie sie behauptete, obwohl er fand, dass man so einen Umweg in Kauf nähme. Er wäre über die B1 durch die Stadt gefahren. Vielleicht etwas längere Fahrtzeit, aber der kürzere Weg. Doch sie saß am Steuer und hatte damit das Sagen.
Gerade hatten sie das berühmte Waldlokal Freischütz passiert. Die Hörderstraße führte hier steil hinunter nach Schwerte.
»Schatz, entschuldige! Aber willst du nicht ein wenig langsamer fahren?« Besorgt sah er seiner Frau ins Gesicht, und was er dort zu sehen bekam, war die reine Panik.
»Die Bremsen, die Kupplung! Nichts geht mehr …«
Der blaue Jimny krachte in dem alltäglichen Stau vor der Kreuzung Heidestraße schräg auf einen Lieferwagen, sprang nach links auf die falsche Spur und stieß frontal mit einem Lkw zusammen, der sich den Berg hinaufquälte. Feuer züngelte aus dem Motorblock des kleinen Jeeps, und Sekunden später stand der ganze Wagen in Flammen.
Der Mann und seine Frau hinterließen fünf Kinder. Die Zweitjüngste wurde am frühen Nachmittag von der Polizei informiert und musste anschließend mit einem Schock in die Städtischen Kliniken eingeliefert werden.
1. Teil
Alles, was entsteht,
ist wert, dass es zugrunde geht.
Johann Wolfgang von Goethe
1. Kapitel
Dortmund, Juli, 2019
Ein Stück lauwarmer Apfelkuchen mit einem dicken Schlag Sahne und dem unvergleichlichen Duft nach Zimt, warmen Äpfeln und süßen Rosinen. Das war für sie ihre Großmutter. Dazu kamen 1.000 Erinnerungen an endlose verregnete Spielenachmittage, Reitausflüge auf viel zu breiten Pferderücken, Spaziergänge mit spannenden Erzählungen aus einer Zeit, als es in Deutschland noch Krieg gab, köstliche Rinderrouladen mit Kartoffeln, Erbsen und Möhren, sowie der besten Bratensoße, die jemals gekocht worden war.
Ein breites Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Viel zu lange hatte sie ihre Großmutter nicht mehr besucht, das letzte Mal zu Weihnachten vor über sieben Monaten, und heute wurde sie 90 Jahre alt.
»Sabine! Hast du meine guten Schuhe gesehen?«, schallte es aus Rasters Zimmer.
»Wie wäre es, wenn du mal im Schuhschrank nachschaust?«
»Wir haben einen Schuhschrank?«
Sabine musste lachen. »Ja, du Schlaumeier«, rief sie. »Das ist das vermackelte Ding im Flur, wo du immer deinen Schlüssel draufknallst.«
Wenige Minuten später kam ein unglücklich dreinschauender schlaksiger Mann in Sabines Zimmer. Raster hieß eigentlich Hans Schulz, wurde aber wegen seiner Rastalocken, die er sich als Jugendlicher in der Karibik hatte machen lassen, nur Raster genannt. »Muss ich denn wirklich mit? Ich kenne da doch keinen«, maulte er wie ein kleiner Junge.
»Bist du 40 oder gerade erst 14 geworden?«, fragte Sabine prompt. »Oma freut sich so sehr darauf, endlich meinen Freund kennenzulernen, und außerdem kennst du sehr wohl meine Schwester Hanna und ihre Tochter Klarissa. Was hast du dir da eigentlich angezogen?« Sabine wies mit einer fragenden Geste auf die Erscheinung, die vor ihr stand.
Raster hatte sich in einen viel zu kleinen Anzug gezwängt, der ihm wahrscheinlich zur Konfirmation gepasst hatte. Darunter trug er ein schief geknöpftes, zerknittertes weißes Hemd und eine Krawatte, deren Knoten höchstens einem Seemann alle Ehre gemacht hätte.
»Du brauchst dich für meine Oma nicht so, äh, schick zu machen«, prustete sie. »Mist! Jetzt muss ich meine Wimperntusche neu auftragen«, lachte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Nein. Mal im Ernst. Es reicht, wenn du saubere Jeans und ein vernünftiges T-Shirt anziehst. Meine Großmutter steht nicht so auf Konventionen.«
In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet, und herein kam der dritte Bewohner der Wohngemeinschaft im Dortmunder Kreuzviertel.
»Ach, ihr seid noch da?«, wunderte sich Philo, der in Wirklichkeit Friedrich Sachse hieß, wegen seiner Tätigkeit als Philosophiegeschichtsdozent von den meisten aber nur Philo genannt wurde. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er seinen Freund. »Willst du etwa so auf den Geburtstag von Sabines Großmutter gehen?«
»Ist ja schon gut«, maulte Raster. Er hatte als IT-Spezialist und EDV-Nerd in all den Jahren einfach kein Gefühl für Äußerlichkeiten aufbauen können.
Sabine verabschiedete sich ins Badezimmer, um die verwischte Wimperntusche zu erneuern, während sich die beiden Männer in Rasters Zimmer um dessen Garderobe kümmerten.
Mitten in der typischen Aufwärtsbewegung mit der kleinen Bürste hielt Sabine inne und betrachtete ihr Spiegelbild. Was sie sah, gefiel ihr, zumindest äußerlich. Die kleinen Fältchen um Augen und Mund waren für eine 43-Jährige altersentsprechend und eher durch häufiges Lachen denn durch Sorgen entstanden. Und doch war ihr bewusst, dass sie die letzten Jahre gezeichnet hatten. Nicht nur, dass ihre dunkelblonden Haare zunehmend an den Ansätzen grau wurden, was sie noch mit stoischer Gelassenheit zu ignorieren versuchte. Nein, es waren die inneren Risse, die Narben hinterlassen hatten: Eine unglückliche Beziehung einige Jahre zuvor, die sie zutiefst verletzt hatte. Dann die späte Erkenntnis, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit einer überhöhten Verehrung ihres verstorbenen Vaters entsprang, den sie in ihrem Leben zu ersetzen versuchte. Diese Einsicht hatte tiefe Spuren hinterlassen. Denn nach und nach hatte sie begriffen, dass nicht nur ihre Beziehungsprobleme darauf zurückzuführen waren, sondern auch ihre Rastlosigkeit und Unbeständigkeit in ihrem Beruf. Nicht, dass sie als Ärztin unzuverlässig oder gar fahrlässig gewesen wäre. Im Gegenteil: Sabine arbeitete immer höchst professionell und akribisch. Doch die Tatsache, dass sie sich seit ihrer Facharztausbildung zur Internistin und Notfallmedizinerin nicht auf eine Festanstellung in einem Krankenhaus oder den Erwerb einer eigenen Praxis eingelassen hatte, sprach für sie mittlerweile Bände. Freie Jobs auf Rettungswagen der verschiedenen Anbieter in Dortmund, unregelmäßige Arbeitszeiten,