Westfalengau. Hans W. Cramer
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Der erste feste Job als überqualifizierte ärztliche Krankenpflegerin im letzten Jahr war in einer Katastrophe geendet und hatte sie fast das Leben gekostet.
Sabine seufzte einmal tief, während sie das Bürstchen erneut über ihre Wimpern streichen ließ. Sie sollte sich nicht in Selbstmitleid verlieren. Immerhin war sie seit letztem Jahr mit Raster zusammen, den sie Jahrzehnte kannte und mochte, der für sie aber bis zu den einschneidenden Erlebnissen nur ein guter Freund gewesen war. Sie war glücklich, konstatierte sie für sich selbst. Und auch beruflich bahnte sich eine neue Herausforderung an: Ein niedergelassener Internist aus der Innenstadt hatte sie zu einem Gespräch eingeladen. Er wolle seine Praxis aus Altersgründen verkaufen und hatte von Doktor Sabine Funda als fachlich kompetente Kollegin gehört. Man würde sich in der nächsten Woche einmal zusammensetzen.
Sie beendete ihre gedankenreiche Aufhübschung und trat zeitgleich mit Raster und Philo in den Flur.
»Wollte Susanne nicht auch heute zurückkommen?«, fragte Sabine Philo, der seinem Freund imaginäre Schuppen von der Schulter klopfte.
»Ja, eigentlich schon. Aber die Ärzte in der Reha haben gemeint, dass sie dieses Wochenende noch zur Erholung in Bad Sassendorf bleiben sollte. Am Montag hole ich sie ab.«
Susanne, Philos deutlich jüngere Freundin, war bei den Ereignissen des letzten Jahres schwer verletzt worden und absolvierte gerade ihre zweite Reha-Maßnahme. Ein geistig verwirrter Mehrfachmörder hatte ihr, als er sich in die Enge getrieben fühlte, in den Rücken geschossen. Auch für sie wird sich vieles ändern, dachte Sabine traurig. Als Polizistin schon mit 25 Jahren berufsunfähig zu werden, war ein harter Schlag. Wie es mit ihr weitergehen sollte, stand noch in den Sternen, aber Philo kümmerte sich so rührend um sie, dass Sabine sich keine allzu großen Sorgen machte.
»Können wir?«, fragte sie ihren Freund, der sich offensichtlich in seinem neuen Outfit bestehend aus Jeans, T-Shirt und einfachem Sakko deutlich wohler fühlte.
Eine halbe Stunde später quälten sich Sabine und Raster durch den erwarteten Freitagnachmittagstau am Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest.
»Wir hätten vielleicht doch durch die Stadt fahren sollen«, meinte Sabine mehr zu sich selbst als zu Raster.
»Macht doch nichts. So haben wir Zeit für uns.« Er stemmte die Füße auf die vordere Ablage und erntete dafür einen ärgerlichen Blick seiner Freundin, den er geflissentlich ignorierte. »Erzähl mir ein bisschen mehr von deiner Großmutter. Wie ist sie so, was hatte sie für ein Leben, wo wohnt sie überhaupt genau? Wir hatten noch gar keine Gelegenheit dazu«, bat er.
»Ach, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll«, meinte Sabine zögerlich. »Für mich war sie halt unglaublich wichtig, nachdem meine Eltern damals bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Ich war oft bei ihr, wir haben uns unterhalten, vor allem natürlich über meine Eltern, aber auch Kindheitserinnerungen aufgefrischt. Die Ferien bei meiner Großmutter waren immer das Größte. Sie hat einen großen Gutshof in der Nähe von Holthausen, nördlich von Dortmund-Eving. Ein kleines Dorf mit zwei Kneipen, ein paar Handwerkern und sogar einer Tankstelle. Knapp drei Kilometer außerhalb liegt der Gutshof. Früher, ich glaube seit 1820 oder so, wurde dort intensiv Landwirtschaft betrieben. Durch die beiden Weltkriege ging dann alles den Bach runter, bis mein Urgroßvater den Hof wieder aufgebaut hat. Mittlerweile sind die Stallungen an einen Pferdebesitzer verpachtet, der wiederum zwei Ferienwohnungen vermietet. Der Reitbetrieb geht nach wie vor ganz gut, soweit ich weiß. Früher bin ich auch oft geritten.«
»Gut, das waren alles richtig wichtige Infos«, grinste Raster, »was ich aber eigentlich wissen wollte, war, wie sie so ist. Was ist sie für ein Typ?«
Sabine schwieg eine ganze Weile, während sie sich auf den mittlerweile etwas flüssigeren Verkehr konzentrierte. »Oma ist der beste, klügste und warmherzigste Mensch, den ich kenne«, brach es schließlich aus ihr heraus.
Raster wartete einen Moment, bis er sie fragend anschaute. »Aber?«
»Hast du das Aber tatsächlich gehört? Du bist doch sonst nicht so sensibel. Nein, im Ernst. Da ist nichts. Sowohl als Kind als auch später während des Studiums waren die Zeiten bei Oma immer die Highlights. Das Tolle war, dass ich schon früh mit fünf Jahren ein Nachbarmädchen kennengelernt habe, mit dem ich die wildesten Abenteuer erlebt habe.«
»Was denn für Abenteuer?«, fragte Raster neugierig.
»Na ja. Kleine Katzenbabys versorgen, Ponyreiten, auf Bäume klettern, Äpfel von den Bäumen stibitzen und solche Sachen halt.«
»Ach, diese Abenteuer. Ich verstehe«, meinte Raster und verdrehte die Augen.
Und natürlich gab es ein Aber, dachte Sabine. Doch wie sollte sie ihm davon erzählen, wenn sie es sich selbst nicht erklären konnte.
2. Kapitel
Brighton, Südengland, April 2017
Paul Fisher stand am Fenster der kleinen Wohnung im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses in der Portland Road. Er starrte durch das beschlagene Fenster auf die regennasse Straße, wo nur wenige Passanten, den Pfützen ausweichend, ihrem Ziel entgegen eilten. Wiederholt strich er sich mit beiden Händen über die Arme, um sich etwas Wärme zu verschaffen. Er trug einen dunkelgrauen, kratzigen Wollpullover und feste Bluejeans. Seine Füße steckten in ledernen knöchelhohen Boots. Trotzdem griff ihn die klamme Kälte der Wohnung mehr an, als ihm lieb war. Die meiste Wärme wurde durch den ständig röhrenden alten Kühlschrank produziert, der an einer Wand des nur karg eingerichteten Raumes stand. Außerdem juckte seine Narbe unterhalb des rechten Auges, was immer schon ein schlechtes Zeichen war. Die Narbe hatte er sich bei einer Kneipenschlägerei vor Urzeiten zugezogen. Sie war zwar klein, zog aber das rechte Unterlid ein paar Millimeter Richtung Nase, wodurch diese Gesichtshälfte immer traurig aussah, auch wenn die andere Seite lachte.
Der Coop-Laden gegenüber war mal wieder aus unerfindlichen Gründen geschlossen, stellte Paul in einem weit peripher liegenden Teils seines Gehirns fest, während seine Gedanken woanders ihre Bahnen zogen.
Was konnte er schon dafür, dass er hier gelandet war? An ihm lag es nun wirklich nicht. Es war ihm bewusst, dass er klug genug war, um etwas anderes als das hier, auf die Beine zu stellen. Aber welche Chancen hatte das Leben ihm denn gegeben? Ach was, das Leben; seine Eltern hatten ihm letztendlich das alles eingebrockt. Allen voran sein Vater, der alte Hurenbock. Eines Tages hatte es seiner Mutter gereicht, ständig Beweise für eine neue Schlampe zu finden, die er unbedingt hatte abschleppen müssen. Die Trennung war unvermeidlich. Aber damit hatte das Drama erst so richtig an Fahrt aufgenommen. Er selbst war damals gerade einmal zehn Jahre alt, sein neun Jahre älterer Bruder diente seit Kurzem in der Marine, und so war er dem, was kam, hilflos ausgeliefert. Sein Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen, sodass die Mutter mit drei Putzjobs die kleine Familie erhalten musste. Die bisherige Wohnung konnte sie trotzdem nicht finanzieren, und so fanden sie sich schon bald in einem Drecksloch von Sozialwohnung in Preston wieder. Hier, im Preston Park, lernte Paul mit 13 seine erste Gang kennen, mit der er kleinere Unternehmungen startete, die am Rande der Legalität lagen. Aber was hätte er denn anderes machen können? Die Mutter wiederholte mantramäßig, dass sie alles tun würde, damit das Geld reiche, und sein Job wäre es, verdammt noch mal, alles dafür zu tun, dass er eine vernünftige Schulausbildung bekäme. Die Schule, ha! Es war einfach alles nur langweilig. Paul hatte schon früh gemerkt, dass der angebotene Stoff für ihn ein Klacks war. Das Wissen, dass er die schulischen Inhalte beherrschen könnte, reichte ihm völlig. Folglich wurden die Noten trotz Ermahnungen der Lehrer und der Mutter