Westfalengau. Hans W. Cramer
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Nachdenken musste er, weil ihm eine Sekretärin in der Gauverwaltung gerade einen Brief überreicht hatte, den er überhaupt nicht erwartet hatte.
»Herr Sturmbannführer, ich habe hier ein Schreiben aus England für Sie«, hatte sie ihm diskret zugeflüstert. »Sie wissen, dass das ein eher ungewöhnlicher Vorgang ist, den ich eigentlich melden müsste. Die Poststelle hat ihn natürlich sofort geöffnet und den Inhalt überprüft. Aber es scheint sich nur um familiäre Angelegenheiten zu handeln. Seien Sie trotzdem ein wenig vorsichtig!«
Er mochte diese Belinda. Sie war stets umsichtig und bemüht, Aufsehen zu vermeiden.
Alfred wusste genau, von wem der Brief kam, und dass die Poststelle ihn gelesen hatte, machte ihm keine Sorgen. Aber trotzdem hatte er gerade heute, nach sechs Jahren, nicht damit gerechnet. Was konnte das bedeuten? Gutes eigentlich nicht. Natürlich waren die Zeiten unsicherer geworden. Schon seit drei Jahren fielen immer wieder Bomben auf die Stadt, aber dem Endsieg in absehbarer Zeit stand doch wohl nichts entgegen? Seine Gedanken wanderten 29 Jahre zurück, nach …
*
Ypern, Belgien, April 1915
So wie zigtausend andere hatte sich Alfred mit seinen 21 Jahren im Sommer 1914 begeistert für den Kriegsdienst gemeldet. Schließlich musste man den befreundeten Österreichern helfen, und dass der Russe den Serben zur Seite sprang, sollte ihn teuer zu stehen kommen. Wenn dann auch noch die westlichen Nachbarn, Belgien, Frankreich und sogar England und Kanada, sich gegen das Kaiserreich formierten, musste eben aus allen Rohren geschossen werden. Es hatte ihn an die Westfront nach Flandern verschlagen.
Längst war die Anfangseuphorie verflogen, zu viele Kameraden hatten ihr Leben verloren. Den Tränengasangriff der Franzosen hatte er mithilfe feuchter Tücher vor dem Gesicht überstanden und war nicht, wie einige seiner Mitstreiter, panisch aus den Gräben gesprungen, um dann brutal abgeschossen zu werden. Der französische Giftgasangriff war für die Deutschen eine wunderbare Begründung dafür, ihrerseits einen deutlich gefährlicheren Stoff, nämlich Chlorgas, einzusetzen. Alfred war das recht. Er wollte einfach nur weg hier. Von seiner Position aus konnte er beobachten, wie einige höhergestellte Kameraden Stahlflaschen mit dem Gas vorbereiteten. Es war mucksmäuschenstill. Der Gegner ahnte wohl, dass etwas bevorstand, und die deutschen Soldaten warteten gespannt auf die Wirkung der tödlichen Substanz. Die üblichen Feuergefechte waren jedenfalls eingestellt worden. Plötzlich sah man eine riesige gelblichweiße Gaswolke in Richtung der gegnerischen Gräben ziehen. In dem Moment, als sie den Feind erreichte, erschollen grauenhafte Schreie aus tausenden Kehlen. Männer stürzten aus den zur Falle gewordenen Gräben, in denen sich das Gas sammelte, rissen die Arme hoch, griffen sich an die Kehle und brachen zusammen. Ein grausiges Sterben hatte begonnen. Für Alfred und viele andere war jedoch dieser Moment wie Balsam für die geschundene Seele. Aber unerfahren und dumm, wie er war, blieb er nicht im Schutz des eigenen Grabens, sondern sprang mit einem Siegesgeheul heraus und feuerte mit dem Gewehr in die Luft. Die Befehle seines Hauptmanns, sofort zurückzukehren, hörte er nicht oder wollte er nicht hören. Für Alfred war der Krieg in diesem Augenblick vorbei, und das galt es zu feiern. Plötzlich nahm er vor sich Bewegungen wahr: Männer, die sich ihm in der einsetzenden Dämmerung mit dem Gewehr im Anschlag näherten. In diesem Augenblick passierten zwei Dinge: Ein weiterer Mann sprang auf ihn zu, brüllte: »Get down, immediately!«, und riss ihn von den Füßen. Gleichzeitig fielen zwei Schüsse, und Alfred verspürte einen fürchterlichen Schmerz in der linken Schulter. Einen Moment blieb er benommen liegen, nur undeutlich war ihm klar, dass der Engländer noch immer auf ihm lag. In der schnell einsetzenden Dunkelheit wurden beide in den englischen Graben gezogen und notversorgt. Sein Retter hatte eine Kugel ins Bein bekommen. Sie konnten gerade noch ihre Namen austauschen, dann wurden sie auch schon getrennt. Alfred kam in Kriegsgefangenschaft, sein Lebensretter, ein junger Soldat namens William Danning aus York, wurde vor Gericht gestellt und wegen »Feindsbegünstigung« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
Von Strelitz hatte sich mittlerweile auf eine Bank vor dem Münsteraner Hauptbahnhof gesetzt. Er schwitzte leicht trotz der noch winterlichen Temperaturen und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, um sich das Gesicht trocken zu wischen. Außerdem spannte seine Uniform. Vielleicht war es doch nicht eine so gute Idee gewesen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er beobachtete ein paar Frauen, die über die Straße eilten. Die meisten waren einfach gekleidet, nur wenige hatten einen Hut auf. In der Hand trugen sie einen Korb mit den wichtigsten Dingen zum Überleben. Fast alle mussten den Gürtel zurzeit enger schnallen. Das ist so in Kriegszeiten, dachte Alfred. Die Frauen bewegten sich im Laufschritt. Man wusste von der Gefahr eines erneuten Bombenangriffs. Aber noch waren die Sirenen intakt. Die Warnung würde früh genug überall in der Stadt zu hören sein. Ein paar wenige Lkws brummten vorbei und hinterließen ihre stinkende Abgaswolke.
Inzwischen waren auch einige Dienstwagen der SS vorbeigefahren, und die ihm bekannten Offiziere hatten ungläubig geschaut, dass er da so alleine vor dem Bahnhof auf einer Bank saß. Er meinte, bei manchen ein spöttisches Lachen bemerkt zu haben. Ihn interessierte das nicht.
Bis heute war ihm schleierhaft, warum William ihm damals das Leben gerettet hatte. Oft hatten sie in den 20er-Jahren bei diversen Besuchen darüber diskutiert, aber verstanden hatte Alfred es trotzdem nicht. Diese Art der Selbstlosigkeit war ihm zutiefst fremd. Sie waren Freunde geworden. Einmal, weil sie dieses einschneidende Erlebnis in Belgien verband, aber auch, weil sie eine gemeinsame Leidenschaft pflegten: Beide hatten nach dem Krieg Kunstgeschichte studiert. Keiner von ihnen hatte ein besonderes Talent für eigene Gemälde, aber beide liebten die Bilder der Renaissance und der Impressionisten.
6. Kapitel
Im Norden Dortmunds, Juli, 2019
Die Kuchenberge waren geschrumpft, der Kaffee war ausgetrunken. Wie in Westfalen üblich, war man zu einer Runde guten westfälischen Korns übergegangen, zumal eine der ältesten und größten Kornbrennereien hier ganz in der Nähe ansässig war. Entsprechend gab es einen Krämer Doppelkorn.
»Du musst jetzt sehr tapfer sein«, flüsterte Sabine Raster zu.
»Warum?«, fragte dieser zurück.
»Es beginnen die Festtagsreden. Das kann dauern.«
Raster schluckte und machte der jungen Kellnerin ein Zeichen, das Pinnchen noch einmal zu füllen. Eigentlich stand er überhaupt nicht auf Hochprozentiges, aber irgendwie musste das ja überlebt werden.
Als Erster kam Pfarrer Hilgenstock an die Reihe. Seine Ansprache war erstaunlich prägnant und kurz. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, mit einem spitzbübischen Lächeln darauf hinzuweisen, dass er Oma Lina, wie er sie nannte, gerne etwas öfter in der Messe sehen würde. Ansonsten hob er das hohe Alter und die herausragende Gesundheit der Jubilarin hervor und verband das selbstverständlich mit einem kurzen Dankgebet, das von den Anwesenden teilweise inbrünstig, teilweise peinlich berührt mitgetragen wurde.
Raster