Westfalengau. Hans W. Cramer
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7. Kapitel
Münster, Februar 1944
Er hatte mehrere Möglichkeiten: Entweder er ging nach Hause zu seiner Familie und verschob den Brief auf später oder er verdrückte sich in die Nische einer einsamen Gastwirtschaft, wo er in Ruhe lesen konnte, riskierte damit aber Ärger mit Ruth. Er entschied sich für die zweite Lösung. Noch länger warten konnte er einfach nicht.
Ein paar Straßen weiter Richtung Südosten kannte er eine kleine Spelunke, die für seine Zwecke gerade richtig war. Sie wurde so gut wie nie von Angehörigen der SS oder der Gauleitung besucht. Außerdem wusste Alfred, dass es dort einen Ecktisch gab, der in genau so einer Nische stand, wie er sich das vorstellte, und die ihn vor neugierigen Blicken schützen würde.
Der Tisch war frei. Er bestellte ein Bier und während er wartete, wanderten seine Gedanken zurück zu jener Zeit, als William und er ihre Geheimsprache entwickelten.
Das Ganze hatte mit einem Planspiel angefangen. Sie saßen in York in Williams Lieblingspub, hatten schon so manches Pint geleert und philosophierten über die Weltgeschichte. Hierbei benutzten sie alle möglichen Gegenstände auf ihrem Tisch, um Länder, Armeen und Grenzen darzustellen. Es war ein wüstes Hin- und Hergeschiebe von Gläsern, Salzfässchen, Tellern und Besteck. Immer öfter brachen sie in schallendes Gelächter aus, wenn sich zum Beispiel ein zierlicher Kaffeelöffel namens Belgien gegen den schweren Bierkrug Deutschland auflehnte. Schließlich hielt Alfred inne und wurde ernst.
»Wie wäre es, wenn wir aus diesem Spiel einen Code entwickeln würden, den nur wir verstehen? Wir sind uns doch beide darüber einig, dass es schon bald wieder Krieg geben wird.«
William nickte zustimmend. Die wirtschaftliche und politische Situation Ende der 20er-Jahre in Europa, vor allem aber in Deutschland, legte nichts anderes nahe.
»Wenn das wirklich so sein sollte, wird nämlich ein Kontakt für uns schwierig. Reisen werden unterbunden, selbst Briefeschreiben kann gefährlich werden«, fuhr Alfred fort. William hörte aufmerksam zu. »Wir könnten – ähnlich wie hier unsere Sachen auf dem Tisch – alle wichtigen Länder Europas und der Welt mit unverfänglichen Namen belegen.«
»Ja. Das ist gut. Und zwar, wenn ich englische Namen schreibe, wenn du deutsche schreibst.« William war Feuer und Flamme. »Nur. Was machen wir mit dem Inhalt? Es darf ja keiner verstehen, was wir eigentlich sagen wollen.«
»Wir schreiben einfach das Umgekehrte von dem, was wir meinen. Ein Beispiel: Du willst mir schreiben, dass Deutschland Russland angreifen will. Dann könnte das in etwa lauten: August hat sich unsterblich in Lenchen verliebt.«
»Weil August für Deutschland und Lenchen für Russland steht. Tolle Idee!«, begeisterte sich Alfred.
Und so ging es noch Stunden weiter, bis sie eine Familie entwickelt hatten, deren Mitglieder für alle entscheidenden Länder standen und jeweils einen deutschen und einen englischen Namen trugen. Außerdem legten sie noch einige Verben und Attribute fest, mit deren Hilfe sie das Gemeinte besser verdeutlichen konnten. Nur das mit der Sinnumkehrung ließen sie wieder unter den Tisch fallen.
»Ist das aber nicht reichlich unkonkret?«, fragte schließlich William seinen Freund. »Wir können uns so überhaupt nichts Persönliches mitteilen.«
»Das ist doch gerade das Fantastische«, antwortete Albert. »Der Code ist so ungenau und auch immer wieder anders, dass er nie geknackt werden kann.«
Vor sechs Jahren hatte der letzte Briefwechsel auf diese Art stattgefunden. Damals hatten sie sich über mögliche Angriffsziele Nazideutschlands ausgetauscht. Es war aber beiden deutlich geworden, dass Alfreds Parteizugehörigkeit bei aller bestehenden Freundschaft doch zwischen ihnen stand. Und jetzt lag ein weiterer dieser Briefe vor ihm auf dem schmierigen Holztisch in der schummrigen Kneipe. Daneben ein Glas lauwarmes Bier. Alfred fischte sich einen Zigarettenstummel aus der Innentasche seiner Uniformjacke, den er sich eigentlich für nach dem Abendessen hatte aufsparen wollen, und zündete ihn an. Dann endlich zog er das Papier aus dem geöffneten Umschlag und begann zu lesen.
Lieber Alfred,
so lange haben wir nichts mehr voneinander gehört. Ich hoffe inbrünstig, dass es dir gut geht.
Ich muss dir einiges, teilweise Erschütterndes aus meiner Familie erzählen, da du ja immer so viel Anteil nimmst. Dafür bin ich dir sehr dankbar.
Du erinnerst dich daran, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Damals ging es ja bald mit Onkel John zu Ende. Ich weiß noch, wie traurig du warst. Vielleicht kannst du dich auch an John junior erinnern? Stell dir vor, dem geht es genauso schlecht. Dieselbe Krankheit, und wahrscheinlich wartet derselbe Tod auf ihn. Manche in meiner Familie haben es ja kommen sehen. So sagte Tante Jane zu mir: Junge, warte ab. Dem kleinen John wird es wie dem alten gehen. Woher sie das nur wissen konnte?
So, wie es aussieht, wird wohl Lewis zu John über die Themse fahren, wo er zurzeit bei Agatha wohnt. Aber ich denke, dann wird bald alles vorbei sein.
Ach, was ich dir noch sagen wollte: Tante Jane ist ja wirklich gut im Weissagen von Dingen. Sie lässt dir ausrichten, dass du unbedingt warme Sachen für dich und deine Familie besorgen sollst. Es soll ein extrem kalter Winter auf uns zukommen.
So viel erst einmal von mir. Denk an uns!
In tiefer Freundschaft,
Dein William
Geschockt legte Alfred von Strelitz den Briefbogen auf den Tisch zurück. Die Aussage des Schreibens war so einfach wie prägnant, sodass er nicht lange über den Sinn rätseln musste:
Deutschland würde, wie schon den ersten, auch diesen Krieg verlieren. Und das in absehbarer Zeit durch eine Invasion der Amerikaner über den Ärmelkanal in Frankreich. Außerdem ermahnte ihn William, etwas für sich und seine Familie zurückzulegen, da schwere Zeiten anbrechen würden.
Na dann prost, dachte Alfred und bestellte sich ein weiteres Bier und gleich einen doppelten Korn dazu.
8. Kapitel
England, Frühjahr 2017
Es war eine Sache, eine Bank auszurauben. Fünf große Sporttaschen mit Diebesgut quer durch Englands Süden zu transportieren, eine andere. Paul hatte das Problem mit seinem Lieblingshehler Nathan Weissman diskutiert. Schließlich waren sie übereingekommen, dass Paul zur Probe eine Tasche packen und den Rest fotografieren sollte. Die übrigen Sachen verstaute er in mehreren Schließfächern in Brighton und machte sich eine Woche nach dem Überfall mit seinem Wagen auf den Weg Richtung Norden. Drei Stunden später stellte er erleichtert fest, dass Nathan vorsorglich das schmale Tor neben seinem Antiquariat in der Linton Road im Londoner Stadtteil Bermondsey offengelassen hatte. Paul steuerte sofort den Wagen hindurch, parkte in dem engen Hinterhof und schloss das Tor wieder. Er war froh, dass er auf diese Weise nicht von neugierigen Nachbarn auf der Straße gesehen werden konnte.
Früher gehörte diese Gegend zu den Schmuddelecken der Stadt. Heute waren die Häuser renoviert oder neu gebaut, und es hatte sich eine äußerst attraktive