Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs - Группа авторов страница 2

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs - Группа авторов

Скачать книгу

Kelsens, eines fundamentalen Beitrags zur modernen Rechtstheorie, aus dem Zusammenbruch imperialer Ordnungen nachgehen. Der theoretische Teil des Sammelbandes wird mit dem Aufsatz von Fatima Festić abgeschlossen, der ein close reading von Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips (1919–1920) und den gleichzeitig entstanden Gedichten Anna Achmatovas bietet.

      Im zweiten, den publizistischen Diskursen gewidmeten Abschnitt des Sammelbandes wird eine Bandbreite unterschiedlicher ideologischer, politischer und/oder kultureller Leitbilder und Verhaltensmuster der 1910er und 1920er Jahre aufgezeigt, wobei nicht nur ihre zeitgenössischen Kontexte, sondern zugleich auch ihre – oft verhängnisvollen – Folgen für spätere Zeiten sichtbar gemacht werden. So wird von Svjetlan Lacko Vidulić ein Zagreber literarisches Periodikum der frühen Nachkriegszeit präsentiert, dessen Programmatik auf dem jugoslawischen Integralismus beruhte, jener politischen Option, die die Unzulänglichkeiten des südslawischen Königreichs schon in seinen Anfängen freilegte. Einen genauso ambivalenten Blick auf die Auflösung imperialer Ordnungen und die schwierige Konsolidierung neubegründeter Staaten bietet Johann Georg Lughofer in seinem Beitrag über die Zeitungsberichte des jungen Joseph Roth über den polnisch-sowjetischen Krieg im Jahre 1920, die den späteren Monarchisten als Bewunderer der Roten Armee erscheinen lassen. Wie sich eine lokale Ritualmordlegende zu einer antisemitischen Affäre mit langwierigen, heute noch spürbaren Folgen entwickeln konnte, zeigt Endre Hárs am Fall „Tisza-Eszlár“ und an dessen zahlreichen Literarisierungen. Ungarische Zustände hat auch der Beitrag Andrea Seidlers zum Thema, in dem sehr unterschiedliche, von der politischen Positionierung abhängige Reaktionen der Wiener Presse auf die Räterepublik Béla Kuns zur Darstellung kommen. Viel mehr stereotypisiert als politisch bedingt erweisen sich – wie Toni Bandov in seinem Aufsatz festhält – die Berichte niederländischer Publizisten über ihre Reisen durch das Königreich Jugoslawien. Dass die frühe Nachkriegszeit nicht nur von nationalstaatlichen Absonderungsbestrebungen dominiert war, sondern auch erste moderne, wenngleich nicht unumstrittene europäische Vereinigungskonzepte mit sich brachte, wird von Aleš Urválek am Beispiel von Karl Anton Rohans „Kulturbund“ und dessen Organ „Europäische Revue“ sichtbar gemacht.

      Die dritte Sektion des Sammelbandes bringt ein breites Spektrum fiktionaler Darstellungen, die diversen nationalen Traditionen entspringen, sich auf spezifischen individuellen Poetiken begründen und demzufolge auch die Turbulenzen des Kriegsgeschehens und der darauffolgenden Jahre in unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Weise in Szene setzen. Als eine Art „loss of innocence“ werden von Jelena Šesnić die Narrativierungen des ‚Großen Krieges‘ in der amerikanischen Literatur bezeichnet, die – wie an Fallbeispielen von Hemingway und Dos Passos gezeigt – Rituale von Gewalt und Männlichkeit auf der Folie einer massiven Traumatisierung zum Vorschein bringen. Im Beitrag von Davor Dukić werden repräsentative Texte des jungen Ivo Andrić vorgestellt, die nicht nur ästhetische, sondern – wenngleich indirekt – auch weltanschaulich-politische Präferenzen des späteren Nobelpreisträgers vorwegnehmen. Zwei diametral entgegengesetzte Inszenierungen von D’Annunzios ‚Fiume-Unternehmen‘ – als ein dionysisches Fest beim Italiener Giovanni Comisso und als eine hysterische Tragikomödie beim Kroaten Viktor Car Emin – kommen im Aufsatz von Marijan Bobinac zur Darstellung. Der Roman des kroatischen Schriftstellers August Cesarec Des Kaisers Königreich (1926), der die Umtriebe der revolutionären kroatischen Jugend in der Vorkriegszeit zum Thema hat, wird von Milka Car im Spannungsfeld postimperialer und nationaler Diskurse analysiert. Das verunsicherte Zeitgefühl der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wird von Hans Richard Brittnacher am Beispiel von Leo Perutz’ Roman Wohin rollst Du, Äpfelchen? (1928) ins Blickfeld gerückt, vordergründig einem konventionellen Heimkehrer- und Racheroman, dessen politische und ästhetische Relevanz sich insbesondere am Schicksal seiner deplatzierten und traumatisierten Protagonisten festmachen lässt. Ein völlig anderes Anliegen verfolgt Bruno Brehm mit seiner erfolgreichen Romantrilogie Die Throne stürzen (1931–1933) über den Verfall des Habsburgerreiches: Entgegen dem Versuch des Autors, seinen Longseller nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Art retrospektive Utopie darzustellen, weist die ursprüngliche Fassung der Trilogie – wie Jörg Jungmayr in seinem Aufsatz zeigt – deutlich auf Brehms Ablehnung der multinationalen Monarchie und dessen Befürwortung eines großdeutschen Führerstaats. Den Sammelband schließt der Beitrag von Jelena Spreicer über Miroslav Krležas Roman Ohne mich (1938), in dem die Inszenierung des postimperialen Kroatien auf der Folie der gewalttätigen Geburt einer neuen, von Anfang an korrupten Elite, die den anonymen Romanhelden „an den Rand des Verstandes“ treibt, geboten wird.

      * * *

      Für die finanzielle und logistische Unterstützung bei der Realisierung des Forschungsprojektes, der Konferenz und des vorliegenden Bandes möchten wir den Geldgebern, der Croatian Science Foundation, der Universität Zagreb und der Universität Brno, wie auch anderen fördernden Institutionen, insbesondere dem ÖAD, dem Österreichischen Kulturforum Zagreb und der Universität Wien herzlich danken. Unser Dank gilt auch allen Konferenzteilnehmern und Konferenzteilnehmerinnen für rege Diskussionen und gemeinsame Erkundungen auf dem Gebiet der postimperialen Narrative im zentraleuropäischen Raum. Last, but not least danken wir auch dem Narr Francke Attempto Verlag und der Reihe „Kultur – Herrschaft – Differenz“ für die freundliche Aufnahme in ihr Verlagsprogramm. Dank gilt auch jenen Kollegen, die sich am Peer Review-Verfahren beteiligt haben.

      Marijan Bobinac, Wolfgang Müller-Funk, Jelena Spreicer, Andrea Seidler, Aleš Urválek

      Brno, Wien und Zagreb im März 2021

      Historische und theoretische Diskurse

      Die Schatten des Krieges

      Bruch, Fremdheit, Marginalisierung, Wiederholungszwang

      Wolfgang Müller-Funk (Wien)

      1. Der Rahmen

      Dass die kriegerischen Ereignisse von 1914 bis 1918 als Weltkrieg bezeichnet werden, ist ein Fall für eine narrative Kulturanalyse, die davon ausgeht, dass eine Erzählung immer auch schon eine retrospektive Deutung des Erzählten beinhaltet. Er ist für Ödön von Horváth ein Weltkrieg, weil viele Menschen eine Welt verloren haben, eben jene Welt der Habsburger Monarchie. Damit sind drei Schatten-Phänomene benannt: die Fremdheit der neuen Welt, in der viele Menschen verloren sind, der Bruch mit der bisherigen selbstverständlichen Zugehörigkeit (‚Heimat‘, ‚Identität‘) und daraus resultierend eine Marginalisierung: die Bedeutungslosigkeit der neuen Welt geht Hand in Hand mit einer sozialen Deplacierung. Dies ist bei genauerer Betrachtung ein Kernstück in den Werken von Joseph Roth und Ödön von Horváth.

      Mit Blick auf die Psychoanalyse, die schon sehr früh dem Begriff „Trauma“ als einer spezifischen Form der Neurose eine konzise Bedeutung gegeben hat, lässt sich sagen, dass dieser Krieg traumatisierte Menschen en masse hervorgebracht hat, was Freud, der gerade an seinem neuen, die eigene Lehre dramatisch verändernden Werk Jenseits des Lustprinzips arbeitet, in einer ironischen Replik in einem Brief an Sándor Ferenczi festhält: „Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren begann, nimmt der Krieg ein Ende, und wenn wir einmal eine Quelle finden, die uns Geldmittel spendet, muß sie sofort versiegen.“1

      Mit Freud lässt sich gegen diesen sarkastischen Kommentar geltend machen, dass die durch das Geschehen des Ersten Weltkriegs und die ihm nachfolgenden Ereignisse bewirkte Traumatisierung mit dem Kriegsende nicht aufhört, sondern erst recht eigentlich beginnt. Traumatisierung und Marginalisierung werden zu kollektiven Phänomenen, deren systematische Analyse die nachfolgende Katastrophe von Faschismus und Nationalsozialismus, von Shoah und Wiederholungskrieg schlimmsten Ausmaßes tendenziell zu erhellen vermag.

      Bruch, Fremdheit und Marginalität erzeugen ein Gemisch von Melancholie und Aggression, Themen, deren sich die Psychoanalyse Freuds nach 1918 intensiv angenommen hat.

Скачать книгу