Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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      Das gilt auch für die Begegnung mit der stramm nationalistisch eingestellten Kellnerin im Restaurant. Diese Annäherung scheitert und damit auch der Versuch einer geglückten sexuellen Beziehung. Die Frau, die in diesen Kontexten auch als Betrügerin firmiert, bietet dem hilflosen und selbstverlorenen Sladek an, sich für einen stattlichen Betrag – es ist die Zeit der Inflation – auszuziehen:

      SLADEK: Du hast so eine schöne Haut.

      DAS FRÄULEIN: Ich bin auch ein Sonntagskind.

      SLADEK: Ich nicht. – Du bist so weich.

      DAS FRÄULEIN: Das hat jede Frau.

      SLADEK: Nein, nicht jede.

      DAS FRÄULEIN: Was der kleine Mann für große Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust du denn?

      SLADEK: Ich schau dich an.

      DAS FRÄULEIN: Nein.

      SLADEK: Doch.

      DAS FRÄULEIN: Du schaust mich an und doch nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht.19

      Nachdem sie ihn geküsst und sich ausgezogen hat, meint die Frau selbstbewusst: „Du bist ein einsamer Mensch. Du mußt öfters kommen, sonst wirst du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung.“20 Anfänglich amüsiert sich die junge Frau ganz offenkundig lustig über den empfindsamen romantischen Mann ihr gegenüber, der enttäuschenderweise gar nichts Männlich-Zupackendes an sich hat, sondern sich in der Weichheit ihrer schönen Haut verliert. Am Ende macht sie indes eine überraschende und wohl auch zutreffende Entdeckung: Dieser Mensch, dieser Mann ist unfähig, eine konkrete Beziehung zu einer Frau einzugehen. Er schaut nicht sie an, sondern sieht etwas in ihr, das dahinter ist. Insofern geht diese sexuelle Annäherung ganz schief, Sladek kommt ihr nicht näher, sondern möchte sie vor allem aus der Ferne vollständig nackt betrachten können.

      Soweit kommt es in der letzten Szene gar nicht, wenn Sladek, der nach dem gescheiterten Aufmarsch gegen die Republik nach „Nikaragua“ auswandern möchte (weil ihm, wie auch beim „Kap der guten Hoffnung“, der Name ausnehmend gut gefällt), nähert sich überaus schüchtern und ungeschickt einer jungen Frau, Lotte, und fragt sie, ob sie mit ihm Karussell fahren möchte und das Fremde mit seiner Einsamkeit begründet:

      SLADEK: […] ich kenn nämlich keinen Menschen.

      LOTTE: Sie sind hier fremd?

      SLADEK: Sehr fremd.

      LOTTE: Sind sie nicht Engländer?

      SLADEK: Stimmt.21

      Das ist einer dieser fetzenhaften und verwehten Dialoge in der Horváth-Welt, die die Weltverlorenheit der Menschen in den Pausen, das ein Schweigen der Worte ist, versinnbildlicht. Horváths Menschen bleiben dem Publikum rätselhaft fremd, so wie sich seine Figuren auf der Handlungsebene im Stück selbst und einander fremd bleiben. Es ist nicht ohne Ironie, dass Sladek die Frage der fremden jungen Frau, ob er ein Engländer sei, bejaht. Es ist pure Ironisierung des Umstandes seiner einsamen Existenz, die ihn in das politische Abenteuer und nun zum Auswandern veranlasst

      5. Close Reading 2: Joseph Roths Das Spinnennetz

      Den gleichen Zeitraum behandelt auch Joseph Roths erster Roman Das Spinnennetz, der zunächst, der Germanistik lange unbekannt, in der Wiener „Arbeiterzeitung“, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie erschien, dessen Handlung indes in Berlin angesiedelt ist, auch wenn mit der Familie Ephrussi/Efrussi eine Spur nach Wien gelegt wird. Wie im Sladek spielt hier das Thema männlicher Marginalität im Gefolge von Krieg und Inflation, sowie der Bekämpfung durch Rechtsradikalismus und die schwarze Reichswehr eine maßgebliche Rolle.

      Roths Figur des Theodor Lohse ist freilich aus gänzlich anderem Holz geschnitzt als jene des Sladek, der sich in die völkische Welt ebenso verirrt wie in die der Frauen. Seine Ausgangssituation ist erbärmlich und unerfreulich. Sein männlicher Wert als Soldat, ja sogar als Leutnant des wilhelminischen Heeres, ist – wie die Geldwerte in der Inflation – auf ein Nichts zusammengeschrumpft. In der von Frauen, der Mutter und Schwestern, dominierten Nachkriegs-Familie, ist er ein geduldeter, nicht wohlgelittener Gast,1 was der Erzähler sarkastisch kommentiert:

      Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben bleibt.2

      Dass er nach 1918 nichts mehr wert ist und dass er gleichsam vor der Zeit ein Pensionistendasein in der bürgerlichen Gesellschaft führt – sozialer Tod statt heroischen Untergangs – führt eben jene Entwertung des Mannes herbei, gegen die sich Lohse, der sich als Hauslehrer bei der reichen Familie Efrussi verdingt, aufbäumt. Marginalität und Identitätsverlust treiben ihn in die Arme rechter Kreise, die wissen, wen sie für die „neuen Situationen“ verantwortlich machen können, den Sozialismus, den neuen demokratischen Staat, die Vaterlandslosigkeit, den Pazifismus und die „Liebe für den Feind“, das angebliche Streben der Juden nach Weltherrschaft. Ganz besonders aber die Juden. Diese Weisheiten beziehen die damals neuen Rechten aus den Protokollen der Weisen von Zion, die, wie es im Roman heißt, „alle Mitglieder des Reserveoffiziersverbandes zu den Hülsenfrüchten am Freitag“ bekamen. Diese symbolische Ernährung macht sie bereit für den Aufstand gegen jene Welt, in der sie keinen Platz finden und in der sie sich – Parallele zu Horváths Stück – als deren Opfer sehen.

      Lohses Antisemitismus speist sich auch aus dem Neid des Verlierers, der sich von allen Reichtümern und von jedweder Anerkennung ausgeschlossen sieht. Auf Grund seines Statusverlustes hat er in seiner Interpretation auch sein sexuelles Kapital eingebüßt, das es ihm in besseren Zeiten ermöglich hätte, etwa der Liebhaber der schönen Frau Efrussi zu werden. Lohse träumt einem Liebesabenteuer mit einer Berliner Dame nach, die – Ausdruck bürgerlicher Distinguiertheit – ein „lila Unterhöschen“3 trug. Zur Marginalisierung gesellt sich das Kastrationsphantasma, das sich auch nicht durch kurzlebige sexuelle Affären mit sogenannten leichten Mädchen aus der Unterschicht oder Halbweltdamen kompensieren lässt.

      Was Sladek in Grübelei und Melancholie treibt, das löst bei Lohse Willen zum Handeln aus: „Bald wird er aus seinem ruhmlosen Winkel treten, ein Sieger, nicht mehr gefangen in der Zeit, nicht mehr unter das Joch seiner Tage gedrückt.“4 Roth entwirft das Soziopsychogramm eines Typus, der den eigenen Stolz wiederaufrichten möchte und der sich dem Traum von Superiorität und Anerkennung hingibt. Lohse ist keineswegs ein Ideologe, das symbolische Mobiliar seines postsoldatischen völkischen Milieus ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck, sich Geltung zu verschaffen.

      Durch die Vermittlung von Doktor Trebitsch gerät Theodor alsbald in rechtsradikale Kreise. Dieser Name besitzt eine historische Referenz, war doch ein Arthur Trebitsch (der Vorname ist im Roman einem Onkel vorbehalten, der nach dem Ersten Weltkrieg in die USA emigriert ist) nach und neben Otto Weiniger der prominenteste jüdische Antisemit. Ihm, dem reichen Seidenhändler und autodidaktischen Philosophen, der 1925 unter dem Einfluss des Verdikts gegen die „Sklavenmoral“ eine „Arische Wirtschaftsordnung“ vorlegte, hat Theodor Lessing in seinem Buch Der jüdische Selbsthass ein ganzes Kapitel gewidmet.5 Dieses Paradox, Jude und Antisemit zu sein, wird im Roman Roths nicht angesprochen oder gar geklärt. Überhaupt bleibt

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