Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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und partikuläre Charakteristiken der einzelnen Länder nicht geopfert werden, um weitreichende universelle Makro-Perspektiven um jeden Preis einzuwenden. Werke der kroatischen Historikerin Mirjana (Miriam) Gross (1922–2012) bieten noch heute einen zuverlässigen Wegweiser, wie spezifische Entwicklungen im Rahmen einer Makro-Perspektive der Habsburgermonarchie behandelt werden können.32 Um eine (noch) mehr nuancierte strukturelle Analyse der Habsburgermonarchie und ihrer Ambivalenzen zu erreichen, werden weitere kultur- und gesellschaftsgeschichtliche vergleichende Studien über die Peripherie des Reiches, über Galizien, Bukowina, Dalmatien, Istrien, Kroatien-Slawonien und auch Ungarn im Ganzen immer notwendiger. Gerade Ungarn als schwerwiegender Fragenkomplex wird noch immer in den meisten Synthesen reduziert oder nur auf politischer Ebene ergänzt, wobei kulturelle, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Aspekte zumeist selten vorkommen. Ein de-zentrierter, pluralisierter Blickwinkel auf die Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert sollte dabei zu neuen Synthesen individueller Erfahrungen diverser Gruppen führen, deren Existenzrahmen die Donaumonarchie darstellte. So werden weitere Studien des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie (sowie Semiperipherie) eingebracht, die auch zu einer erweiterten Verflechtungsgeschichte führen können.

      Nun besteht die Aufgabe nicht darin, nur das Umbruchjahr 1918 bzw. die Habsburgermonarchie bis 1918, sondern auch eine Epoche der langen Dauer im Wesentlichen aus anderen Blickwinkeln zu betrachten; nicht als das letzte Licht im Tunnel der Habsburgerstudien, sondern mehr als bindendes Jahr der Transition, die sich auf diversen Ebenen, sei es in der Kulturgeschichte, Literaturgeschichte, Mentalitätengeschichte oder auch in den Strukturen wie nationale Diskurse, politische Ideengeschichten usw. manifestiert. Da die „New Habsburg History“ meistens auf sozialgeschichtlicher Basis operiert, könnte man auch weiterhin epochenübergreifende Aufsätze (sowie Synthesen) erwarten, die Strukturen und Prozesse vor 1918 und nach 1918 verbinden und gründlich überprüfen.33 Multidisziplinäre und Transdisziplinäre Untersuchungen der Habsburgermonarchie und deren „Nachleben“ in der Zwischenkriegszeit (auf politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebenen) öffnen somit immer wieder neue Potentiale, die die Habsburgerstudien nicht nur durch revisionistische Bemühungen, sondern auch durch originelle Problemstellungen bereichern. Somit wird die Geschichte vom langen Fall zur Geschichte vom langen Wandel.

      Die Geburt des Rechtspositivismus aus dem Zerfall der politischen Ordnung

      Kelsen und die Reine Rechtslehre

      Christine Magerski (Zagreb) – Johanna Chovanec (Wien)

      1. Einleitung

      Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich die intellektuelle Grundlegung der Reinen Rechtslehre, und dies „in dramatischer Verdichtung und Verquickung von Biographie, Wissenschaft und Politik“.1 Als Architekt der österreichischen Bundesverfassung wird der Jurist Hans Kelsen (1881–1973) auf den Parlamentsseiten der Republik Österreich zu den wichtigsten Persönlichkeiten gezählt, welche nach dem Zusammenbruch der imperialen Ordnung an dem Aushandlungsverfahren zwischen Politik und Recht beteiligt waren. Kelsens Prominenz wurde insbesondere im öffentlichen Diskurs rund um das 100-jährige Jubiläum der österreichischen Bundesverfassung im Jahr 2020 sichtbar. 2018 präsentierte das Wiener Volkstheater die Uraufführung „Verteidigung der Demokratie“; eine historische Rückschau auf das verfassungsrechtliche Wirken Kelsens mit kritischen Verweisen auf anti-demokratische Tendenzen im zeitgenössischen Europa. Die Ausstellung „Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung“ im Jüdischen Museum Wien (2020–2021) würdigte nicht nur Kelsens Biographie, sondern ermöglichte auch eine detaillierte Beschäftigung mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) selbst. Thomas Olechowskis Biographie eines Rechtswissenschaftlers (2020)2 und Pia Plankensteiners graphic novel Gezeichnet, Hans Kelsen (2020)3 setzten neue Standards für die respektive wissenschaftliche und popkulturelle Beschäftigung mit Kelsen.

      Kelsen hatte die habsburgische Tragödie, das heißt die Zuspitzung und den Untergang der österreichisch-ungarischen Großmacht(politik), nicht nur mit eigenen Augen gesehen, sondern deren Werden im Machtzentrum regelrecht studiert und nach denkbaren Alternativen gesucht. Die bis zum Ausbruch der so genannten Urkatastrophe unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte öffneten ihm gezwungenermaßen die Augen für die Kontingenz politischer Ordnungen, welche wiederum den Versuch ermutigten, eine verbindliche Grundnorm als Fiktion zu setzen, um auf dieser die vorrangige Geltung der Rechtsordnung zu begründen. Jürgen Busch spricht bezüglich der Wirkung des Ersten Weltkriegs für Kelsen dann auch treffend von der „Achsenzeit einer Weltkarriere“ und resümiert, dass die Kriegsjahre 1914 bis 1918 für dessen Entwicklung von ganz entscheidender Bedeutung waren.4

      Die Frage nach der Bedeutung des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die Entwicklung Kelsens Reinen Rechtslehre steht im Fokus dieses Beitrags. Die Fragestellung selbst wird einerseits als Beitrag zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und andererseits als eine mögliche Form der Kritik an der oftmals als unangreifbar und kristallklar betrachteten Reinen Rechtslehre verstanden. Bezugnehmend auf Christoph Menke begreifen wir Kritik dabei als das Verstehen eines Textes in seinem Werden. Wie Menke betont, muss die Kritik den Geburtsakt oder die innere Genesis ihres Gegenstandes nachvollziehen.5 Die Reine Rechtslehre und ihr politisches Potenzial, so gilt es zu zeigen, wurden vor der Folie des Ersten Weltkriegs geboren. Ihre Genese bleibt, auch wenn der Abstraktionsgrad der Theorie dies vergessen lässt, an die zuvor unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, den Zusammenbruch eines politischen Systems und die damit verbundene Einsicht in die Kontingenz von Ordnung gebunden. Ein solcher, formgenealogisch ausgerichteter Zugang bezieht die Entstehungshintergründe und den Kontext der von Kelsen gezielt als reine Form entworfenen Rechtstheorie notwendig mit ein.

      Um die formgenealogische Kritik an der Rechtstheorie Kelsen zu entfalten, wird im Folgenden zunächst Kelsens Biographie enggeführt auf die beispiellose „wissenschaftliche Weltkarriere“, die der Rechtstheoretiker im 20. Jahrhundert durchlief.6 Der zweite Schritt konzentriert sich auf Kelsens Hauptwerk, die Reine Rechtslehre, als eine der wichtigsten rechtstheoretischen Schriften der Moderne. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf die Grundnorm als Höhepunkt Kelsens konsequent gedachten Rechtspositivismus gelegt. Der dritte und abschließende Schritt kontextualisiert den ideengeschichtlich radikalen Akt der Setzung der Grundnorm, indem er ein Schlaglicht auf Kelsens Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs wirft und sein Rechtsdenken als Antwort oder auch mögliche Lösung einer politisch konkreten Problemlage, nämlich der österreichisch-ungarischen Armeefrage, aufweist.

      2. Kelsens Aufstieg in die österreichische Wissenschafts- und Staatselite

      Hans Kelsen war ein Kind der Donaumonarchie, das heißt eines historisch betrachtet lange währenden multinationalen und multikonfessionellen europäischen Großreichs. In ihm wiederum war er ein Teil der „Austrian State Elite“ und mithin einer Gruppe, für die Fredrik Lindström folgende Charakteristiken nennt: Ihre Teilnehmer durchliefen ein Studium der Rechte an österreichischen Universitäten, hatten gleichzeitig mehrere Betätigungsfelder, innerhalb derer sie zumeist insofern reformerisch tätig waren, als sie institutionelle Veränderungen als Staatsbeamte begleiteten oder als Experten für konstitutionelle Fragen wirkten, jedoch mehrheitlich keine politischen Karrieren anstrebten.1 In die so beschriebene österreichische Staatselite wurde Kelsen nicht hineingeboren, sondern musste sich in sie hineinarbeiten. Dem jüdischen Bürgertum zugehörig, wurde Kelsen im Jahr 1881 in Prag als Sohn eines Mannes geboren, der wiederum in Brody (Galizien) aufgewachsen war und in Wien starb. Seine Mutter, geborene Löwy, stammte aus Böhmen und starb 1950 in Bled, damals Jugoslawien.

      Suchte man nach einer (post)imperialen Geschichte der Donaumonarchie in nuce, hier hätte man sie. Das dem habsburgischen Großreich inhärente Zentrum-Peripherie-Problem für sich lösend, zieht die Familie Kelsen 1884 nach Wien, wo der Sohn im Jahr 1900 die Matura am Akademischen Gymnasium Wien ablegt, um ein Jahr darauf ein Studium der Rechts-

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