Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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Anfang jener Weltkarriere, der ihre Achsenzeit noch bevorsteht. Gleichzeitig markiert die Zeit um 1900 einen staatsgeschichtlichen Einschnitt: „around the year 1900, this state was close to abdicating its role of leading and governing the society it was framing“.3 Genau diese Frage nach der möglichen ‚Rahmung‘ der Gesellschaft wird für Kelsen zur prägenden intellektuellen Herausforderung.

      Um sie anzunehmen, musste sich Kelsen noch tiefer in das Zentrum hineinarbeiten. 1905 tritt er zum Katholizismus über. 1906 erfolgt die Promotion zum Dr. jur. an der Universität Wien, gefolgt von Studienaufenthalten in Heidelberg und Berlin. Im Frühjahr 1911 habilitiert sich der dreißigjährige Kelsen an der Universität Wien und beginnt dort noch im selben Jahr seine Lehrtätigkeit als Privatdozent für Staatsrecht und Rechtsphilosophie. Daneben lehrt er als Dozent für Verfassungs- und Verwaltungslehre an der Wiener Exportakademie des k.k. österreichischen Handelsmuseums. Als festen Baustein umfasst Kelsens Lehre eine Vorlesung, die sich ihrerseits als Seismograph des Wandels am Schnittpunkt von Politik-, Rechts- und Wissenschaftsgeschichte lesen lässt: Ab 1911 hält Kelsen in jedem Wintersemester die einstündige Vorlesung „Der österreichisch-ungarische Ausgleich“. Ab 1919/1920, also nach dem verlorenen Krieg und dem Untergang der Donaumonarchie, entwickelt Kelsen aus ihr sukzessive die Vorlesungen „Deutschösterreichisches Staatsrecht“, „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ sowie, schließlich, „Allgemeine Staatsrechtlehre und österreichisches Staatsrecht“.4

      Spätestens mit der Habilitation (1911) hatte sich Kelsen dabei nicht nur als Rechtsspezialist ausgewiesen, sondern innerhalb der sozialen Hierarchie des Großreiches auch endgültig den Aufstieg in die obere Mittelklasse vollzogen. Die Mittelklasse selbst war geradezu an das Rechtsstudium gebunden: „The Austrian middle class in the last decades of the empire was to a high degree a law educated class.“5 Als solche war sie von einer Kultur geprägt, welche wiederum, zumindest im Falle Kelsens, bis auf jene staatsbezogene, formalistische Rechtswissenschaft durchschlug, der Kelsen seine Mittelklasse-Existenz verdankte: „the basic abstract, a-national, and strongly state-centred culture“.6 Darauf wird zurückzukommen sein. Hinsichtlich der Biographie Kelsens bleibt zu ergänzen, dass das Leben der Familie Kelsen während des Krieges weitgehend ungestört verlief. Auch unterbrach der Krieg nicht die Wissenschaftskarriere Kelsens, im Gegenteil.7 Kelsens vielfältige Tätigkeiten im Kriegsministerium während des Ersten Weltkriegs und seine Positionierung im Hinblick auf die österreichisch-ungarische Armeefrage zeigen, wie nah an den Regierungskreisen Kelsen gearbeitet hat und wie sehr sein rechtswissenschaftliches Wirken in Wechselwirkung mit den politischen Gegebenheiten stand. Zudem hielt Kelsen während des Krieges, und zwar durchgängig von Ende 1913 bis 1918, in seiner Wohnung Privatseminare ab, aus denen sich ein engerer Kreis bildete, der nach dem Krieg die Form einer Schule annahm. In einer Art Sonntags-Kreis kam es einmal im Monat zu einer intellektuellen Zusammenkunft, deren bloße Existenz bezeugt, dass sich selbst noch die Urkatastrophe beobachten und reflexiv einholen ließ.

      Unmittelbar nach dem Ende des Krieges, im März 1919, wird Kelsen zum Mitglied des deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofes ernannt und, im Sommer desselben Jahres, zum ordentlichen Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Die Professur besetzt Kelsen bis 1930.8 Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Antisemitismus an den Hochschulen verlassen Hans und Margarete Kelsen in Jahr 1940 Europa und gehen nach New York, wo Kelsen seine „wissenschaftliche Weltkarriere“ fortsetzt.9

      3. Kelsens Reine Rechtslehre

      Kelsens wissenschaftliches Hauptanliegen war es, die Rechtswissenschaft als eigenständige Wissenschaft zu etablieren und sie dabei von ideologischen Verstrickungen mit der Politik loszulösen: „Nicht um die historische, politische, ökonomische, soziale, moralische, psychische Qualität von Recht geht es, sondern um Recht als Recht. D.h. die spezifisch juristische, eben eigengesetzliche Dimension des Rechts.“1 Als sein oftmals modifiziertes Hauptwerk gilt die Reine Rechtslehre, deren Grundzüge er bereits in seiner Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911)2 entworfen und dann 1934 paradigmatisch in der Reinen Rechtslehre präsentiert hat. Wie Zeleny hervorhebt, hat Kelsen selbst seine Reine Rechtslehre stets als work in progress verstanden, als ein auf „Fortentwicklung gerichtetes Unternehmen unter Beteiligung einer Mehrzahl gleichgesinnter Gelehrter“.3 Diese Weiterentwicklung wurde zum einen von seinen Schülerinnen und Schülern und zum anderem von ihm selbst vorangetrieben. Kelsen ist den Grundpfeilern seiner Lehre zwar grundsätzlich treu geblieben, hat sie aber immer wieder umfassend überarbeitet und als modifizierten Gesamtüberblick publiziert: in der Allgemeinen Staatslehre (1925),4 der bereits erwähnten ersten Ausgabe der Reinen Rechtslehre (1934),5 der General Theory of Law and State (verfasst auf Englisch, 1945),6 der zweiten, deutlich umfassenderen Ausgabe der Reinen Rechtlehre (1960)7 und der posthum veröffentlichten Allgemeinen Theorie der Normen (1979)8.

      Kelsens revolutionäre Ansätze haben in den Jahren nach seiner Habilitation zur Herausbildung der bereits angesprochenen so genannten Wiener rechtstheoretischen Schule geführt, eines losen Kreises gleichgesinnter Gelehrter.9 Mit Kelsens Weggang aus Wien nach Köln und spätestens mit seiner Emigration in die USA vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtergreifung zerfällt der Wiener Kreis jedoch zunehmend.10 Kelsens Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung und Entideologisierung der Rechtswissenschaft haben jedoch bei weitem nicht nur Zustimmung, sondern auch breite Ablehnung erfahren. So wurde Kelsens Doktrin oft als Provokation bzw. als Angriff auf die etablierte Jurisprudenz wahrgenommen.11 Kelsens Bestreben, eine reine und damit erst wissenschaftliche Rechtslehre zu entwickeln, wurde von vielen als Herabsetzung der bisherigen Jurisprudenz als unwissenschaftlich und unrein wahrgenommen.12 Mehrfach kritisiert Kelsen, dass die traditionelle Rechtstheorie vor allem seit dem Ersten Weltkrieg wieder stark von der konservativen Naturrechtslehre beeinflusst ist.13

      Wie bereits angedeutet, ist es kaum möglich, von der Reinen Rechtslehre als geschlossenem theoretischen Ansatz zu sprechen.14 Grundsätzlich bezieht sich die Reine Rechtslehre, wie Jestaedt im Vorwort zur Studienausgabe der ersten Auflage der Reinen Rechtslehre hervorhebt, auf drei Punkte: Erstens, den in zwei unterschiedlichen Auflagen (1934, 1960) erschienenen Text Kelsens, dessen Version von 1934 als paradigmatisches rechtstheoretisches Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Zweitens, als ideologiekritische, rechtspositivistische Theorie, die eng mit dem Namen Kelsen verknüpft ist. Drittens, als Gruppierung von RechtswissenschaftlerInnen, die, wie oben ausgeführt, die Wiener Schule der Rechtstheorie geformt haben und eng mit der Wiener Moderne verbunden sind.15 Der vorliegende Beitrag fokussiert vor allem auf die Reine Rechtslehre16 Kelsens, wie sie in theoretisch verdichteter Form erstmals 1934 veröffentlicht worden ist und bezieht sich auch auf die zweite Auflage von 1960.17

      Wenn im Art. 18 der österreichischen Bundesverfassung paradigmatisch festgelegt wird, dass die gesamte staatliche Vollziehung, also Verwaltung und Gerichtsbarkeit, nur aufgrund der Gesetze zur erfolgen hat, so wird die Frage nach der Geltung des Rechts angesprochen. Weshalb Recht gilt, wird von VertreterInnen verschiedener rechtstheoretischer Schulen abweichend beantwortet: Kelsen ist einer der wichtigsten Vertreter des Rechtspositivismus, seine Reine Rechtslehre eine spezifische Ausformung desselben.18 Wenngleich Kelsens Schaffen über den Lauf der Jahrzehnte viele Veränderungen erfahren hat, bleiben, wie Meiners hervorhebt, zwei Grundannahmen in Kelsens Schaffen konstant: Die Positivität und die Normativität des Rechts als Grundlagen seines Rechtsverständnisses.19 Positives Recht bezeichnet das vom Menschen gesetzte Recht, welches, im Gegensatz zu anderen Normen wie religiösen Vorstellungen, Teil einer normativen Sollensordnung ist.20 Rechtspositivistische Ansätze vertreten die Ansicht, dass nur die von Menschen gesetzten Normen als Recht gelten und sich ausschließlich von den in der Rechtsordnung bestimmten Rechtserzeugungsregeln ableiten lassen. Transzendentale Vorstellungen von Gerechtigkeit, Vernunft oder Moral spielen keine oder nur eine geringe Rolle. Der Naturrechtslehre hingegen liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich das vom Menschen gesetzte Recht aus einer universal gültigen, höheren Ordnung ableiten lässt. Die Geltung des Rechts wird somit beispielsweise in einer gottesgegebenen Ordnung, wie dem Gottesgnadentum, begründet.

      Kelsen

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