Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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völkischer Parteien tummeln.

      Durch Trebitschs Vermittlung lernt Lohse das ganz rechte Milieu Berlins und danach auch Münchens kennen, er gerät in die Nähe des dubiosen Prinzen Heinrich, der ihn für seine homosexuellen Neigungen instrumentalisiert, er lernt die Hintermänner der verbotenen Aufrüstung, aber auch die Führer der neuen völkischen Gruppierungen kennen. Er verrichtet die niederen Arbeiten, die Erledigung kommunistischer Gruppen, die Niederschlagungen eines Aufstandes von Landarbeitern oder die Beseitigung von Gesinnungsgenossen, die seinem Aufstieg im Wege stehen. Er ist auch aktiv an der Beteiligung eines Putsches beteiligt, der im Roman mit dem Datum des 2. Novembers (statt wie historisch korrekt mit dem des 9. Novembers) versehen wird – zusammen mit der Feier für Ludendorff –, eine ganz normale völkische Karriere. Seine Mordgeschäfte bringen ihm Geld ein, die sein ökonomisches Vorankommen gewährleisten. Aber was ihm fehlt, ist der Bekanntheitsgrad eines Hitlers, denn Lohse arbeitet mit seinen geheimen Missionen, schwarze Reichswehrkontingente aufzustellen, zumeist im Verborgenen. Er agiert dabei so mechanisch und professionell so wie zu den Zeiten, als er als Schüler komplette ‚fremde‘ Sätze auswendig gelernt hatte:

      Er wollte Führer sein, Abgeordneter, Minister, Diktator: Noch kannte man ihn nicht außerhalb seiner Kreise. Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. […] Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte.6

      Dann trifft er auf einen zweiten jüdischen Geheim- und Doppelagenten, Benjamin Lenz, einen Nihilisten durch und durch, dessen ideologische Verankerung sehr locker ist:

      Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen […], er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte […].7

      Lenz ist ein früher Vertreter von Falschmeldungen und ein Propagandist sinnloser Grausamkeit, ein geschickter Segler in der Intransparenz eines Netzes von Geheimdiensten, Verschwörergruppen, sinisteren Parteien und Terroristen. Er durchschaut Lohse, der für ihn weder ein Gesinnungstäter noch ein „geborener Mörder“ ist:

      Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit ihrem Leben, Ihren Einnahmen, ihrer sozialen Stellung. Sie hätten versuchen sollen, im Rahmen Ihrer Persönlichkeit mehr zu erlangen, niemals aber ein Leben, das Ihrer Begabung, Ihrer Konstitution zuwiderläuft.8

      Ob das nun ehrlich gemeint ist oder ob es sich um einen Trick handelt, den Ehrgeiz Theodors anzustacheln, bleibt an dieser Stelle offen. Für ihn ist der umtriebige, leicht zu lenkende Weltkriegsleutnant Instrument und Mittel zugleich, um Geld und Einfluss zu maximieren. Er fädelt eine Hochzeit von Theodor mit einer preußischen Aristokratin ein und verschafft ihm einen einflussreichen Job knapp unterhalb der Minister-Ebene. Während Lohse einem unaufhaltsamen sozialen und politischen Aufstieg entgegenstrebt, kommen seine beiden jüdischen Förderer, zunächst Trebitsch, der sich mit seinem Onkel nach Amerika absetzt, und Lenz, der sich spontan entscheidet, mit seinem Bruder Lazar in den Zug nach Paris einzusteigen, der Bewegung abhanden. Sang- und klanglos verschwinden sie aus dem narrativen Raum des Romans. Für beide war es ein Spiel, das sich vor allem für Lenz, der sich rührend um seine ostjüdische Familie kümmert, finanziell ausgezahlt hat und das wie jedes Spiel einmal an ein Ende kommt.

      So verschieden die Figuren bei Horváth und Roth sich unterscheiden mögen, hier der erfolgreiche Politiker, dort der einsame Melancholiker in der braunen Masse, beide sind sie getragen von jenem politischen Dispositiv, das man einmal als braune Revolution bezeichnet hat. Von ihr versprechen sie sich einen dynamischen Effekt, der ihre mehrfache Marginalisierung kompensieren soll. Oder anders gesagt: Die erfahrene und erlittene soziale, geschlechtliche und ökonomische Deplacierung und die daraus erwachsene Selbstkränkung und Identitätskrise des Mannes und Soldaten nach 1918 bilden die entscheidende Bedingung der Möglichkeit für den so überraschenden wie rapiden Aufstieg der Voraussetzungen für den rechtsradikalen Aufstand gegen die liberale Demokratie. Hier gibt es, über die unleugbare ökonomische Krisensituation, Inflation und Massenarbeitslosigkeit, einen symbolischen Überschuss. Männer, die auch in den eigenen Augen ein überflüssiges Nichts sind, laden sich durch ein Programm auf, das ihnen verspricht, wieder etwas zu werden. Den hohen Preis sind sie bereit zu zahlen, eben weil sie wahre Männer sein wollen, die sich vor Gewalt und Grausamkeit nicht fürchten, sondern diese als Medizin für ihre prekär gewordene Männlichkeit sehen. Sie bringen die Gewissensbisse im Hinblick auf die gemeinen Taten zum Verstummen:

      Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er jede Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. „Ich muß zu dir aufschaun!“ sagte Elsa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu ihrem Mann empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit – dachte sie –, Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser.9

      Ein solcher Befund anno 1923 ist erstaunlich und prophetisch, nimmt er doch den Habitus all jener vorweg, die es im Gefolge der Machtergreifung von 1933 nach Oben spülen sollte. Man muss mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber einige der psychischen Dynamiken, die Roth und Horváth in ihren literarischen Werken herausarbeiten, sind auch im gegenwärtigen Kontext hundert Jahre danach durchaus wirksam.

      1918, Untergang der Habsburgermonarchie und ihre Historiker

      Eine unendliche Geschichte vom Fall und Ende

      Filip Šimetin Šegvić (Zagreb)

      Das große Erinnerungs- und Gedenkjahr 1918 wurde auf globaler Ebene als hundertstes Jubiläumsjahr mehrerer wichtiger Ereignisse ‚konsumiert‘, unter anderem hat man den Untergang der Habsburgermonarchie sowie Gründung sämtlicher neuen Staaten, so auch des SHS-Staats, der Republik Österreich oder der Tschechoslowakei mit verschiedenen Veranstaltungen bedacht. Auf Tagungen und in wissenschaftlichen Publikationen wurde das Jahr 1918 als Umbruchsjahr oder als „Stunde null“ dargestellt. Das Themenspektrum eines Sammelbands versuchte zum Beispiel 1918 nicht als eine strikte Demarkierung vorzustellen, sondern auf übergreifende politische, soziale und kulturelle Strukturen hinzuweisen und somit klassische Spaltungen zu vermeiden.1 Ernsthafte wissenschaftliche, aber auch politische bzw. öffentliche Debatten wurden darüber in ganz Mittel- und Südosteuropa geführt. Dabei kam heraus, dass die meisten Debatten unabhängig voneinander, also ohne jegliche komparativgeschichtliche Perspektive, nicht im Dialog, sondern als monologische Einzelbestandteile geführt wurden. Man konnte auch feststellen, dass bei den Historikern in Mittel- und Südosteuropa nicht nur Kontroversen und größere Fragenkomplexe offen geblieben sind, sondern dass man sich auch auf anderen Ebenen nicht ergänzen konnte, beispielsweise bei einer Suche nach den kroatisch-serbischen oder habsburgisch-patriotischen sowie jugoslawischen Erinnerungsorten, den lieux de memoire.2

      Der Begriff ‚konsumiert‘ wurde absichtlich verwendet, weil Historiker, die noch 2014 auf einen neuen bzw. methodologisch differenzierten Erfahrungsraum vorbereitet waren, sich bis 2018 wahrscheinlich ernüchtert haben. Auch Christopher Clarks literarisch gelungene „Master-Darstellung“, die auf der Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs neue Debatten hervorrief, mangelte an wirklich neuen Interpretationen und Ideen; dennoch bleiben Die Schlafwandler ein multiperspektives Meisterwerk der neuesten Geschichtsschreibung.3 Eine propulsive Bereicherung und Erneuerung der Habsburgerstudien, mit allen zugehörigen modernen methodologischen und theoretischen Ansätzen in der Geschichtsschreibung, lässt allerdings immer noch auf sich warten, trotz einer Überproduktion von re-traditionalisierten und klassisch politisch-historischen

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