Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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sie ein Schatten ihrer selbst. Viele österreichische und deutsche Soldaten sind in ihren Uniformen nach 1918 stecken geblieben, der Übergang in das Zivilleben ist ihnen nicht wirklich gelungen. Der Krieg ist nicht zu Ende, er geht weiter. Dieser Schatten mündet psychoanalytisch betrachtet im Sinn des Wiederholungszwangs in einen zweiten Weltkrieg. Das erlaubt die Konstituierung eines Narrativs, in dem der Erste Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg als einen modernen Dreißigjährigen Krieg zu deuten, eine Konstruktion, die es gestattet, externe und interne gewaltsame Auseinandersetzungen, Kriege und Bürgerkriege, in einem zeitlich-kausalen roten Faden miteinander zu verbinden. Dieser Dreißigjährige Krieg führt zu einer vollständigen geographischen und symbolischen Neuordnung Europas, die man als post-imperial bezeichnen kann.

      2. Marginalität und Heimatlosigkeit

      Der gegenwärtige Diskurs über Fremdheit ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund massenhafter Migration, von ethnisch-kulturellen Parametern bestimmt. Wie ein kurzer Blick auf soziologische und anthropologische Perspektivierungen zeigt, lässt sich das Fremde weiter und das heißt auch in einer soziologischen Beschreibung als randständig, deplaciert und marginalisiert innerhalb einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Systems und eines partikularen Feldes beschreiben. Beinahe alle kulturell bestimmten Fremdheiten (Religion, Sprache, Gewohnheiten und informelle Regeln) gehen Hand in Hand mit jener Marginalität, wie sie der Chicagoer Soziologe Robert E. Park beschrieben hat. Aber nicht jedwede Form von Deplaciertheit und Außenseitertum ist an diese Parameter geknüpft. In einer bestimmten Situation und in einem anderen Kontext kann jeder sich in einer randseitigen Lage befinden, eine Frau in einer Männerrunde, ein Autor in einem Gespräch mit Bankern usw. Fremdheit ist bekanntlich keine Eigenschaft, sondern ein relationales Phänomen. Im Extremfall bedeutet Marginalität das absolute Fehlen von Bindungen und Beziehungen in einem gegebenen kulturellen Kontext, zum Beispiel die Nicht-Zugehörigkeit zu beiden Kulturen, der alten und der neuen.

      Randständigkeit kann sich auch durch politische Zäsuren, wie sie das Ende des Ersten Weltkriegs darstellt, einstellen. Die Marginalität des migrantischen Menschen ergibt sich aus der Tatsache, dass er sein Land und damit seine vertraute soziale Situation mitsamt den vertrauten Codes hinter sich lässt. Die Marginalisierung von Menschen im Zentrum Europas nach 1918 ergibt sich nicht aus einer äußeren Migration, sondern durch das plötzliche Verschwinden vertrauter sozialer und kultureller Welten, und dies in einem doppelten Sinn, durch die militärische Ordnung der Dinge, die im Krieg bestimmend wird und die zivile Welt in den Hintergrund drängt, aber auch durch das Ergebnis dieses Krieges, als dessen Folge nicht nur ganze Staaten, sondern auch die symbolische Vorkriegswelt verschwindet. Ohne sich vom Fleck zu bewegen, ist man, Mann, in eine Situation geraten, die der Marginalität des Migranten (oder der Migrantin) sehr ähnlich ist. Der gemeinsame Nenner zwischen Migranten und Heimkehrer (oder eigentlich Nicht-Heimkehrer) lautet dabei: mangelnde Integration.

      Parks ‚marginal man‘ findet sich in der Position des Randständigen wieder, der auf Grund seiner schwachen sozialen Integration durch eine so produktive wie prekäre Grenzlage charakterisiert ist. Im Gegensatz zu „innerer Distanz“ ist schwache soziale und kulturelle Einbindung aber eher ein defizitärer Befund, eine Herausforderung für Sozial- und Gesellschaftspolitik.1 Park hat den marginalen Fremden in seiner Schrift aus dem Jahre 1928 als einen kulturell gemischten Menschen, in der heutigen Terminologie, als einen ‚Hybriden‘, beschrieben:

      […] ein Mensch, der im kulturellen Leben und in den Traditionen zweier Kulturen lebt und sie auf intime Weise teilt; der, auch wenn es ihm niemand untersagen könnte, nie bereit wäre, mit seiner Vergangenheit und mit seinen Traditionen zu brechen, und der, aus einem rassischen Vorurteil heraus, in der Gesellschaft, in der er jetzt seinen Platz sucht, nie vollständig akzeptiert wurde. Er ist ein Mensch auf der Grenze zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die sich nie vollständig fusionieren und miteinander funktionieren.2

      3. Roth und Horváth als Sonderbeobachter

      In das Werk der beiden Autoren, von denen im Folgenden die Rede sein soll, Ödön von Horváth und Joseph Roth, ist die von Park umrissene Marginalität eingeschrieben. Dass dies bei den beiden heimatlosen altösterreichischen Schriftstellern der Fall ist, dazu bedarf es eigentlich nicht des Rückgriffs auf deren Lebensdaten. Aber in diesem Falle sind sie doch erhellend. Beide Autoren entstammen dem österreichischen Kontext der Habsburger Monarchie, beide befinden sich in einem gewissen Sinne in einer marginalen Situation, eben weil sie, der eine mit einem ungarisch-mitteleuropäischen Hintergrund, der andere auf Grund seiner galizisch-jüdischen Ausgangssituation, nicht eindeutig einem bestimmten, womöglich zentralen Code zuzuordnen sind. Überhaupt lassen polykulturelle Gebilde wie die Habsburger Monarchie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Nebeneinander und eine Überlappung verschiedener Codes zu, die, ungeachtet eines forcierten Nationalismus, lange Zeit kohabitationsfähig sind.

      Beide Autoren finden sich nach dem Ende des Weltkriegs in der Situation des ‚marginal man‘ wieder. Ihre vertraute Welt, Österreich-Ungarn, existiert nur mehr als Erinnerungsraum, während das gleichfalls marginalisierte, politisch höchst instabile Österreich, auf den Status eines pauperisierten kleinen Landes herabgedrückt, ihnen gleichfalls fremd geworden ist. Man kann in bestimmten historischen Situationen ohne eigenes Zutun fremd werden, ohne dass man sich zunächst innerlich verändert hat. Zu Ende von Roths Roman, der den bezeichnenden Titel Die Flucht ohne Ende trägt, heißt es:

      […] da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.1

      Diese Befindlichkeit charakterisiert viele Figuren in den literarischen Welten von Horváth und Roth. Die neue Umgebung, das geschlagene und von Krisen geschüttelte Deutschland, ist, ungeachtet der sprachlichen Nähe, wiederum ein fremdes symbolisches Territorium, das sich markant von dem alten, aber auch von dem fragilen neuen Österreich nach 1918 unterscheidet. In gewisser Weise ließe sich also sagen, dass Autoren wir Roth und Horváth eine dreifache Erfahrung von Marginalität in sich tragen: durch ihre ‚hybride‘ Herkunft, durch den Verlust ihrer Heimat und durch ihre Migration nach Deutschland und später nach Frankreich, in ein Land, in dem das Leben der beiden übrigens miteinander befreundeten Autoren endet.

      Mit Blick auf das Rahmenthema des Bandes sind sie, auch wenn die Unterscheidung von deutsch und (alt-)österreichisch noch nicht exklusiv ist, sondern vielfach komplementär bleibt, systemtheoretisch gesprochen, literarische Sonderbeobachter eines bekannten und zugleich doch fremden, anderen Land, der Weimarer Republik, die auch durch einen Bruch gekennzeichnet ist: den verlorenen Krieg, Einbuße an Macht und ein neues instabiles, aber kulturell ungeheuer produktives liberales Regime. Roth und Horváth sind auch insofern prädestiniert für diese literarische ‚Aufgabe‘, insofern ihnen ja selbst die Erfahrung von Randständigkeit nicht fremd ist.

      Wofür sich Roth und Horváth als sensible Sonderbeobachter der Welt nach 1918 interessieren, das ist eine ganz bestimmte Form von Marginalisierung, eben jene der vielen heimkehrenden männlichen Soldaten, von Menschen, die beinahe alles verloren haben: ihre angesehene soziale Stellung, ihre physische oder auch psychische Gesundheit, ihren Status als Mann, ihr Selbstwertgefühl, ihre sozialen Beziehungen, ihre Werte und Überzeugungen. Ähnlich wie es Alfred Schütz in seinem berühmten Aufsatz über den Fremden nahelegt, ist der Code ihrer alten Heimat, das Dasein als Soldat in einem mächtigen imperialen Gebilde, völlig wertlos geworden.2 Aus diesem brisanten Gemisch entstehen, um einen heutigen Terminus zu verwenden, Parallelwelten, die die Demokratie in Deutschland und parallel dazu in Österreich am Ende zu Fall bringen werden. Übrigens ist Hitler, der in Joseph Roth epischem Erstling Das Spinnennetz namentlich vorkommt, der österreichische Gefreite in fremden Diensten, zunächst durchaus ein ‚marginal man‘ im Sinne von Park. Die Bewegung, die er in Gang setzt, bezieht ihre Energie

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