Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig

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Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig

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les arbres (dt. Ganze Tage in den Bäumen). Die Titel zeigen am deutlichsten den Beckett’schen Einfluss auf ihr Werk. La Pute de la côte normande (dt. etwa: Die Hure von der normannischen Küste). Als Feindin der Wohlanständigkeit spricht sie Dinge gern unverblümt aus. Alle ernstzunehmenden Schriftsteller, diese Flegel, beschreiben Dinge, von denen sich das Establishment für den eigenen Seelenfrieden wünschen würde, sie blieben unausgesprochen. Dix heures et demie du soir en été (dt. Im Sommer abends um halb elf). Könnte auch ein Françoise-Sagan-Titel sein. (Bei dem Vergleich knirschen Duras-Fans mit dem Gebiss.) Hier zeigt sich, dass ein Titel ohne Autorenname seine Bedeutung nicht voll entfalten kann. Gibt es das eigentlich in der Literatur, einen Titel ohne Autor? Mit anderen Worten Titel, deren Autoren anonym geblieben sind? Die gibt es allerdings, und wir hören nie auf nach den Autoren zu suchen. Ganz Frankreich fragte sich jahrzehntelang, wer die Geschichte der O geschrieben hatte, diesen erotischen Roman aus dem Jahr 1954. Als bekannt wurde, dass ihn Dominique Aury verfasst hatte, eine Übersetzerin und Verlagsangestellte, verlor das Buch schlagartig an Strahlkraft. Bis dahin hatten Vermutungen kursiert, der Autor sei dieser oder jener bekannte Schriftsteller. Die Nähe zu Jean Paulhan, ein berühmter Zeitschriftenherausgeber und Verleger, der das Vorwort verfasst hatte, machte den Roman noch reizvoller, weil man zwischen den Zeilen nach Hinweisen auf seine Autorschaft suchte – und diese natürlich auch zu finden glaubte. Wer sucht, der findet, was er will. Zwischen den Zeilen liegt ein wunderbarer, magischer Raum, welcher Lesern, die des Denkens überdrüssig sind, ermöglicht, was sie eigentlich wollen: sich überzeugen lassen.

      Ein Titel erlangt seine vollständige Bedeutung erst in Verbindung mit dem Namen des Autors. Im Sommer abends um halb elf könnte nicht nur ein bürgerlicher Roman sein, der in Théoule spielt, sondern genauso gut eine englische Kriminalkomödie oder der innere Monolog eines russischen Mystikers kurz vor seinem Selbstmord, kurzum, ein Titel für sich allein will gar nichts heißen. Marguerite Duras, Im Sommer abends um halb elf hingegen, bitteschön, das sagt etwas aus. Bücher werden von Menschen geschrieben, und nur Leute, die in ihrem Leben schon manch eine Schweinerei begangen haben oder schlichtweg an Überheblichkeit leiden, behaupten: »Meine Biographie ist meine Bibliographie.« Nur Dreckskerle verstecken sich hinter dem Ästhetizismus. Das ist auch der Grund, warum wir in einem Schriftsteller, wenn es gut läuft zwischen uns und seinem Buch, einen Freund finden, ja wirklich, einen richtigen Freund. Der Autor hat Fehler. Wie ein Freund. Man mag ihn, und man ärgert sich über ihn. Wie über einen Freund. Habe ich, der Leser, etwa keine Fehler? Würde sich der Autor nicht auch über mich ärgern, wenn wir uns begegneten?

      So ein Schriftsteller ist eine praktische Sache, weil man ihm Fehler anhängen kann. Womit ich nicht sagen will, dass Schriftsteller keine Verantwortung tragen, welch eine erbärmliche moralische Haltung, welch eine erbärmliche literarische Haltung wäre das. Wenn wir jede Verantwortung ablehnen, ist unsere Literatur nichts als leeres Geschnatter.

      Lesen, um nicht mehr Königin von England zu sein

      Auf einem Spaziergang rund um ihr Schloss bleibt Königin Elisabeth II. vor einem Bibliotheksbus stehen. Hocherfreut leiht ihr der Bibliothekar ein Buch, das sie auf gut Glück herausgegriffen hat, den Roman einer Autorin, von der sie in ihrer Jugend gehört hatte. Doch das Werk von Ivy Compton-Burnett, einer mondänen Schriftstellerin der 1930er Jahre, langweilt die Königin. Peu à peu landet sie bei Proust, den sie sich, wenn sie offiziellen Defilees beiwohnen muss, auf den Schoß legt und liest. Ihre Entourage macht sich Sorgen. Ist es Alzheimer? Und überhaupt ist ihr Verhalten nicht politisch korrekt: Lesen schließt aus. Am Bibliotheksbus begegnet die Königin einem ihrer Köche. Weil der sie so gut berät, verleiht sie ihm einen hohen Rang. Doch der eifersüchtige Berater des Premierministers will den früheren Koch loswerden und schickt ihn zum Studium an eine ferne Universität, wo die Königin ihm später wieder begegnet. Als sie den Schachzug durchschaut, wirft sie den Berater des Premierministers raus. Bei einer Feier zu ihrem 80. Geburtstag verkündet sie ihren Ministern, sie werde ein Buch schreiben. Ein Buch … Ah ja, Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg … Nein, nein, antwortet die Königin; man habe da schon eher an etwas Literarisches gedacht. Ma’am, die einzigartige Stellung, die Sie bekleiden, erlaubt es Ihnen nicht, und auch Ihr Onkel, der Herzog von Windsor, konnte Eines Königs Geschichte nur schreiben, weil er vorher abgedankt hatte. Antwort der Königin und letzter Satz des Buches: »Was glauben Sie denn, warum Sie alle hier sind?«

      Die souveräne Leserin von Alan Bennett (The Uncommon Reader, 2007) präsentiert sich als Fabel über das Lesen und seine subversive Kraft. Doch in Wirklichkeit ist es ein Buch über Literatur. Als der Premierminister der Queen antwortet, sie stehe über der Literatur, erwidert die Queen: »Wer kann denn über der Literatur stehen?« – eine Frage, die natürlich keine Königin der Welt jemals gestellt hat.

      Lesen und Macht

      Die einzige Frage, die man sich im Hinblick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bibliothek von Alexandria anzünden? Erscheint einem dieser Gedanke nicht plausibel, ist er gutmütig, und es besteht kein Grund zur Sorge. Andernfalls haftet ihm wohl etwas Vulgäres an. An Kalif Omar, den Schwiegersohn von Mohammed, erinnern wir uns, weil er mit der Vulgarität eines Fanatikers die endgültige Zerstörung dieser Bibliothek angeordnet hat (642, Eroberung Ägyptens), der wertvollsten Sammlung der Antike, deren Manuskripte für immer verloren sind. Der Zynismus von Tyrannen aus gutem Hause kann genauso zerstörerisch sein wie der Glaube, wenn er von dahergelaufenen Ehrgeizlingen instrumentalisiert wird. Solche plötzlich an die Macht gekommenen Menschen sind häufig konservativ, weshalb sich manchmal ausgerechnet die schlimmsten Diktatoren als Förderer der Lektüre entpuppten. In der Sowjetunion waren Bücher günstig, in den Schulen wurde zaristische Literatur gelehrt – wenn auch nur, um zu beweisen, dass der Realsozialismus über die Feudalherrschaft gesiegt hatte –, und die Manuskripte der Klassiker wurden sorgsam verwahrt. Der aus Büchern geborene Bolschewismus stellte das Buch unter seinen Schutz. Marx hat Puschkin gerettet. Beide Mitglieder der schreibenden Zunft! Ich denke nicht ohne Melancholie an den Sommer 1988 zurück, den letzten fröhlichen Sommer für unsereins, die Elite der Partei, als wir auf der Terrasse unserer Datscha am Ufer des Schwarzen Meeres noch einmal Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft von Josef Stalin lasen (das meiner Meinung nach besser ist als Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR).

      Man möge lieber meine Bücher verbrennen als Menschen.

      Lücken lesen

      Einer der ersten Erwachsenenromane, die ich las, war das Satyricon von Petronius (Leser: zweite Hälfte 20. Jahrhundert; Autor: Mitte 1. Jahrhundert), und ich habe mich sehr gefreut, als ich erfuhr, dass dieser Text als erster abendländischer Roman gilt. Es ist ein munterer Roman. Spitzzüngig. Und fragmentarisch. Man erklärte mir, von antiken Büchern seien nur Abschriften erhalten, die in mittelalterlichen Klöstern angefertigt worden seien. Den Mönchen ist es hoch anzurechnen, dass sie mit ihrer naiven Liebe zu allem Geistigen ein Leben lang Bücher abschrieben, deren Religion ihrem Glauben widersprach, Bücher, die manchmal äußerst gewagte Dinge enthielten. Schlug vielleicht schon die Stunde zum Vespergottesdienst, weshalb der Bruder, der sich um Petronius kümmerte, mit geraffter Soutane, die Abschrift unter dem Arm, zum Refektorium eilte? Sind ihm dann in seiner Hast einige Blätter entglitten, die vom Wind ergriffen und auf einen Haufen Papier getragen wurden, der für die Verpackung von Likörflaschen bereitlag? Oder wurden die alten Papierbogen von Insektenflügeln entführt? Jedenfalls liegt uns das Satyricon nur unvollständig vor. Die Lektüre seiner Lücken hat etwas Faszinierendes. Weniger als das, was geblieben ist, und nur existent aufgrund dessen, was geblieben ist. Was hat diese Lücke einst gefüllt?, fragt man sich jedes Mal und wird noch mehr zum Sherlock Holmes, als man es ohnehin bei jeder Lektüre ist. Angeblich ist das Satyricon erst im Laufe seiner Reise durch die Zeit zum Lückentext geworden. Nun gut. Wenn ich nun aber behaupte, es liege nicht an der Zeit, sondern an

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