Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig
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Welch ein Klüngel, diese Schriftsteller! Ein Fußbad der Missgunst. Ich glaube, ich werde Bühnenautor, die hassen sich weniger, wenn man Paddy Chayefsky glauben darf, dem Autor von The Latent Heterosexual (1968), was ich übrigens noch lesen muss. Antonia Fraser schreibt darüber in Musst du wirklich schon gehen? (Must you go?, 2010), dem Tagebuch ihrer Ehe mit Harold Pinter, sehr interessant, and so chic, etwas zu schick vielleicht. Auf zwei Seiten liefert sie ein Resümee dessen, was rückblickend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Westen die kleine verschworene Gemeinschaft der »Kaviar-Linken« ausmachte: Die englische Gruppe empfängt aufgeregt einen südamerikanischen Revolutionär, der sich inzwischen zu einem lokalen Führer gemausert hat, Daniel Ortega aus Nicaragua. Die Treuherzigkeit dieser Leute ist nicht unsympathisch, denn sie entspringt dem Bedürfnis, richtig zu handeln, wohingegen der systematische Widerstand gegen den Fortschritt manchmal der Verachtung entspringt.
Auf der Suche nach einem Beispiel für eifersüchtige Kritiker – so viele sind es nicht – habe ich tagelang eine Zeitschrift durchforstet, von der ich glaubte, dass ich darin fündig werden würde. Ich wurde fündig, aber nicht glücklich. Es ist so, als hätte man in Mülleimern gewühlt. Ich habe eine Frau entdeckt, eine strenge Richterin über anderer Leute Stil, die selbst wie eine gehässige Gymnasiastin schreibt und sich, bloß weil sie ihre Platitüden in rabiate Worte fasst, für scharfsinnig hält. Sie liebt es, Schriftsteller anzugreifen. Diese Leute, die uns angreifen, haben nicht immer Talent. Deshalb suchen sie Zuflucht im Vulgären. Um die Schwäche ihrer Argumentation wettzumachen, schreibt diese Frau in der Wir-Form. »Wir«, das Feuilleton ihrer Zeitschrift. Auf diese Weise zieht sie Menschen in ihre Machenschaften hinein, denen ihr sektiererisches Auftreten unangenehm ist. So schreibt jemand, der sich, noch feucht hinter den Ohren, schon für eine Prophetin hält. Es gibt also eine Art des Lesens, die kriecht und geifert. Da ich aber nicht die geringste Lust auf Dinge habe, die mir keine Freude bereiten, überlasse ich es den Moralisten, diese weiter zu untersuchen.
Und jetzt ein bisschen frische Luft.
Darf ich bitten?
Während es noch vor fünfzehn Jahren das Buch der Bücher war, steht seit 2010 fest, dass Die Schöne des Herrn von Albert Cohen ein schlechtes Buch ist. So lautet ein unumstößliches Gesetz. Im Fernsehen reitet ein Drehbuchautor in meinem Beisein eine Attacke gegen den Text. Wofür halten sich Drehbuchautoren eigentlich, du lieber Gott? Ich habe die Frage für mich behalten und versucht, auf seine Kritik einzugehen. (Wenigstens ein Talent hat dieser Mensch: anderen die Schuld für die eigene Unfähigkeit in die Schuhe zu schieben, aber auch das behalte ich für mich.) Wenn es Ihnen nicht gelungen ist, aus Albert Cohens Roman eine Geschichte zu machen, erwidere ich, dann liegt dies wohl daran, dass dieser Roman nicht von seiner Handlung lebt, sondern von den Figuren, von Ariane und Solal, Solal, eine der wundervollsten Nervensägen der französischen Literatur. Und eine der nervigsten Figuren der französischen Literatur erfunden zu haben, das ist doch was! Zudem ist es ein satirischer Roman, in dem zugleich ein Mittelalter-Roman steckt. Weil Solal fürchtet, dass »das Gesellschaftliche«, wie er es nennt, seine Liebe zu Ariane töten wird, sperrt er sie ein: Mittelalter-Roman. All dies geschieht im mondänen Milieu der Madame Deume, einer prätentiösen dummen Gans, und ihres Sohns, eines ausgemachten Nichtsnutzes, der beim Völkerbund Bleistifte anspitzt. Die Schöne des Herrn ist wie ein Hanswurst auf einem Trampolin voller Narren. Es ist sehr viel mehr als eine Geschichte, es ist ein Bild. Ein Bild, das uns Cohen auf geschickte, geistreiche, zauberhafte Weise nahebringt. Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen.
Die angenommene Passivität des Lesers
Es gibt Momente, in denen es dem Leser durchaus gelegen kommt, sich in einer passiven Rolle zu sehen. Dann nämlich, wenn er von einem Buch nicht begeistert ist. Nur hat man bloß, weil man nicht begeistert ist, nicht unbedingt recht. Der Leser vergisst häufig, wenn er dem Autor etwas vorwirft, dass er möglicherweise selbst Schuld daran trägt. Er kann unter schlechten Voraussetzungen gelesen haben. Schlecht gelaunt gewesen sein. Nicht wirklich gelesen, sondern nur nach der Bestätigung seiner Vorurteile gesucht haben. Doch all das bedenkt er nie. Schuld trägt immer der Autor. Obwohl es durchaus vorkommt, dass dieser gescheiter ist als sein Leser.
Im Allgemeinen wird vorausgesetzt, Leser seien anständige Menschen, alle Leser seien anständige Menschen. Aber auch Idioten lesen. Sie sind das Publikum für Bücher, die behaupten, die Attentate des 11. September 2001 seien von Amerikanern verübt worden. Hohlköpfe. Oder für Bücher, in denen die Gesellschaft des Spektakels niedergeschrien wird, Bücher von Guy Debord. Fieslinge. Oder für Bücher von Louis-Ferdinand Céline. Zyniker. Und dann gibt es noch die Dummen, eine ideale Leserschaft für aggressive Essays von pedantischen Autoren. Doch kehren wir diesen verabscheuungswürdigen Lesern den Rücken, denn über schlechte Menschen kommt man nicht zu guten Gedanken.
Die fügsame Leserin
Magritte wählte für seine Bilder meist erklärende Titel, wie etwa die Fügsame Leserin, die mit ihrer großen Nase und den dicken Augenbrauen der Callas ähnelt und der beim Lesen in einem Buch ein Aufschrei entfährt. Wie würde man Magrittes Bilder interpretieren, hätten sie keine Titel? Wäre die Ironie überhaupt zu erkennen? Und beweist das nicht die Schwäche der Ironie? Gehen wir davon aus, dass der Titel bei Magritte Teil des Bildes ist, weshalb er ihn manchmal sogar direkt auf die Leinwand malt wie bei Ceci n’est pas une pipe. Heute würde Magritte vielleicht Museumsbesucher malen, mit übergestülpten Kopfhörern, die Augen aufgerissen wie die Leserin. Titel des Tableaus (auf die Leinwand gemalt oder nicht): Die Audioguides. Die Audioguides! Die Leute bestehen auf ihre Gedankenlosigkeit. Dabei sind wir nur, während wir lesen, vor der Pädagogik sicher. Die Lektüre kann in eine bestimmte Richtung gelenkt worden sein [vorher] und zu Interpretationen führen [nachher], aber währenddessen ist man auf sich gestellt. Was manchmal einem Kampf gleichkommt: Der Leser gegen das Buch, das ihn irritiert; der Leser gegen sich selbst und sein eigenes Unverständnis. – Bleibt es ein Duell oder wird es zum Duett?
Lesen, um die Buchmitte zu überwinden
Ich lese Der Mann ohne Eigenschaften von Musil. Es ist ein langes Buch. Zwei Bände mit jeweils tausend Seiten. Es hat etwas von einem Kampf, diese Berge zu besteigen. Ah, du glaubst, du kannst mich bezwingen? Langsam, grimmig und mit viel Geduld erklimmt man die erste Hälfte und denkt schon an den Abstieg, der leichter sein wird. Dabei packt einen ein Hochgefühl, in das sich Empörung mischt. Wie unverfroren, so viele Seiten zu veröffentlichen! Was für eine Zumutung! So etwas verzeiht man nur dem Genie, glücklicherweise habe ich es hier mit einem solchen zu tun. Also los, weiter geht’s! … Nur noch sechzig Seiten! … Neunundfünfzig! …
Um der Titel willen lesen
Ich frage mich, ob ich nicht noch einen Grund fürs Lesen gefunden habe: das Bedürfnis, sich selbst zu widersprechen. Wenn ich einen Autor nicht mag, nehme ich ihn mir ein zweites Mal vor. Komm schon, die Schuld liegt bei dir, vielleicht ist er ja doch sehr gut! Wenn ich herausfinde, dass ich mich tatsächlich getäuscht habe, bin ich begeistert. Ich habe ein Vorurteil abgelegt.
Bei Marguerite Duras hätte ich mich damit zufriedengeben können, dass sie mir auf die Nerven geht. Ich hätte nur die Titel lesen sollen. Sie sind exzellent. Les Yeux bleus cheveux noirs (dt. Blaue Augen schwarzes Haar). Klingt wie eine moderne Fassung des wunderschönen Titels von Thomas Hardy,