Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig

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Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig

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ich auch nach Jahren noch annähernd dieselben Passagen unterstreiche. Leider bleiben wir uns selbst immer gleich. Das Lesen verändert uns kaum. Vielleicht veredelt es uns ein bisschen, aber ein Drecksack ist und bleibt ein Drecksack, auch wenn er Racine gelesen hat. Aus einem ungebildeten Drecksack ist dann allenfalls ein aufpolierter Drecksack geworden. Umgekehrt wird ein guter Mensch durch die Lektüre eines bösen Buches nicht zu einem schlechten. Dass Bücher einen schlechten Einfluss haben könnten, ist eine ebenso dumme Mär wie die von ihrem guten Einfluss. Die Vorstellung, Literatur sei moralisch (oder unmoralisch, was aufs Gleiche hinausläuft), ist vielleicht notwendig für deren Überleben in einer Welt, die seit Menschengedenken nur das Nützliche liebt.

      Was glücklicherweise auch bleibt, ist die Frische des Talents, die uns immer wieder Jubelrufe entlockt, selbst wenn wir ein Buch noch so oft gelesen haben.

      Lesen, um sich selbst zu finden

       (ohne sich gesucht zu haben)

      Ein Buch ist nicht für die Leser gemacht, es ist nicht einmal für den Autor gemacht, es ist für niemanden gemacht. Es ist dafür gemacht, zu existieren. Ein für die Leser gemachtes Buch betrachtet seine Leserschaft als Publikum. Folglich wurde es in einer bestimmten Absicht geschrieben, um zu gefallen oder zu überzeugen, herablassend ist beides. Zum einen gegenüber dem instrumentalisierten und somit weniger guten Werk, weil der Autor seinen Gegenstand aus den Augen verloren hat; zum anderen gegenüber den Lesern, die es kränkt, wenn sie merken, dass man ihnen ihre Urteilskraft abspricht. Welch unverfrorene Demagogie! Man will uns mit Sentimentalitäten ködern? Wir schmuggeln uns lieber heimlich in den Kopf des Autors hinein und holen uns selbst das, was wir wollen. Wenn wir uns in einem Buch wiedererkennen, umso besser, aber darum lesen wir es nicht. Egoistisch heißt nicht narzisstisch. Die Freude ist dann umso größer, wenn uns etwas plötzlich rührt. Man muss immer ein wenig diebisch sein, sonst ist das Lesen zu tugendhaft.

      Als ich im Flugzeug diese Zeilen schrieb, machte ich eine Pause, um Thomas Bernhard zu lesen: Der Untergeher, 1983. Übersetzung ins Französische 1986. 1986! Ich hätte sie gleich bei Erscheinen lesen können. Stattdessen tat ich es vierundzwanzig Jahre später, vierundzwanzig Jahre. Vierundzwanzig! Wenn ich an all die grandiosen Dinge denke, die ich im Augenblick meines Todes verpasst haben werde! Was ist die Lektüre doch für ein kapriziöses Geschäft, kapriziös und grausam für die Autoren! So viele übersehene Talente wegen mangelnder Lektüre! Gute Leser müsste man einsperren, damit sie lesen! Man würde ihnen ein Gehalt zahlen, und sie täten nichts anderes als lesend Literatur retten! Vierundzwanzig Jahre! Nun gut, genug Dramatik. Als ich mich nun nochmals mit diesem Schriftsteller befasste, den ich seit langem nicht mehr gelesen hatte, war ich verblüfft über die Vielzahl von Sätzen, die in völlig unveränderter Form mein »Selbstporträt, gezeichnet durch Thomas Bernhard« ergeben würden.

      »Im Grunde hasse ich die Natur, sagte er immer wieder. (…)

      Die Natur ist gegen mich, sagte Glenn (…)«

      »Wir können aber aus diesem Geburtsort weggehen, wenn er uns zu erdrücken droht, von dem Wegund Fortgehen, das uns umbringt, wenn wir den Augenblick des Wegund Fortgehens übersehen. Ich habe das Glück gehabt und bin …«

      … aber ich bin es ja gar nicht. Es geht hier nicht um mich, um uns. Es hat etwas Selbstgefälliges, wenn wir in Büchern zu sehr nach dem suchen, was uns gleicht. In Bernhards Beton von 1982 findet man auch folgende Passage:

      »Wenn ich ein Buch in der Hand hatte, verfolgte sie mich solange, bis ich das Buch weglegte, sie hatte ihren Triumph, wenn ich es ihr voller Wut ins Gesicht schleuderte.«

      Und so etwas habe ich – der Gott der Lektüre kann es bezeugen – niemals selbst erlebt. Jeder Mensch ist einzigartig, das lernt man, wenn man lange genug liest und dabei immer wieder nur Fragmente seiner selbst entdeckt. Es ist nicht unser Abbild, das uns von einem Buch einnimmt, sondern das Talent. Nicht den Figuren oder Gedanken möchte man gleichen. Man möchte dem Talent gleichen.

      Der Gott der Lektüre

      Der Gott der Lektüre? … Aber den gibt es doch gar nicht. Der Mensch hat sich davor gehütet, ihn zu erfinden. Die Leser wussten nur zu gut, wie gefährlich es gewesen wäre, sich auf diese Weise aufzuspielen. Ein Werk, das Esprit und Sensibilität vereint – wie schrecklich!

      Da sich die Spezies der Leser im Übrigen durch steten Rückzug aus dem praktischen Leben unsichtbar gemacht hat, ist es durchaus verständlich, dass sie bis heute keines eigenen Beschützers bedarf.

      Gott ist auf der Bibliotheksleiter.

      Lesen, um sich auszudrücken

      Nach Beendigung seiner Lektüre wird der Leser keinesfalls in den unberührten Zustand einer leeren Datei zurückversetzt. Nein, er wurde bereichert um eine Vielzahl von Sätzen. Faszinierenden Sätzen! Sätzen, die davonflattern wie ein Halstuch im Wind und denen er bis ans Ende der Welt folgen würde. Meine Jugend wurde begleitet von einem Heine-Vers. »Ich weiß nicht was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«. Ja, wirklich, Die Lorelei, ständig und unermüdlich sprach ich diese Worte auf Deutsch vor mich hin, berauscht davon, ein so schönes Gewand für die Traurigkeit gefunden zu haben, die ich empfand und die ich genoss. Mit der Wahl unserer Lektüre kleiden wir unsere Emotionen ein, legen uns Wörter in unsere stummen Münder, verleihen dem Grummeln unserer Gedanken Eloquenz.

      Kaum ein Satz hat mich in diesem Alter mehr beeindruckt als der von Prospero in Shakespeares Sturm (IV, 1): »We are such stuff / as dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep« – »Wir sind aus solchem Stoff / wie Träume sind, und unser kleines Leben / ist von einem Schlaf umringt.« Überall schrieb ich ihn nieder, murmelte ihn vor mich hin, versuchte, den Sinn zu ergründen, der mich erleuchtet hatte. Oder dies: »Die Nuance, Feindin der Finesse«, von Balzac. Beim Blättern in einem Taschenbuch war ich darauf gestoßen, als ich im Sommer in einem Buchladen arbeitete. Dummerweise hatte ich das Buch zugeklappt und weggestellt, nur um schon zwei Minuten später und für die nächsten zwanzig Tage vergeblich nach der Textstelle zu suchen. Im Grunde zwanzig Jahre lang, denn ich habe sie bis heute nicht wiedergefunden, zumal ich nach einer Weile vergessen habe, um welches Buch von Balzac es sich eigentlich handelte. Oh, du Phantom, wirst du dich vielleicht an meinem Lebensabend offenbaren und mir aus einem seiner Bücher unverhofft entgegenlächeln? Und so werde ich dann, noch bevor ich den Satz zu Ende gelesen habe, meine letzte Ruhe finden.

      Ein Tanz im Verborgenen

      Bücher sind mehr als Gegenstände, in denen Dinge stehen, die wir suchen und gedankenlos verschlingen. David Grossman spricht in Die Kraft zur Korrektur (2008) von »Büchern, die ihn gelesen haben«. Da ist schon etwas dran: Als Leser ist man den Büchern ausgeliefert.

      Bücher leben von ihren Lesern. Sie müssen von ihnen besprochen werden. So verbreitet sich in Teilen des öffentlichen Bewusstseins eine bestimmte Sichtweise, die eben das ist, was die Literatur beisteuern kann. Ideen sind nicht das, was Literatur ausmacht. Es sind die Beobachtungen aus einer so persönlichen Perspektive, dass von ihnen ein ganz eigener intellektueller Reiz ausgeht, dem begeisterte Leser erliegen.

      Solche Leser spazieren durch die Straßen, und man merkt ihnen äußerlich nichts an; könnte man jedoch in sie hineinschauen, so sähe man … bei ihr, ja … bei ihm auch … er, nein, er ist undurchsichtig. Und bei dem da ist auch nichts zu sehen, der ist vollgestopft mit Zahlen. Aber er, ja … Und sie … Könnte man in sie hineinschauen, sähe man einen selbstvergessenen Tanz tausender Büchernarren

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