Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig

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Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig

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belebt neu

      Wir lesen aus purem Egoismus, bewirken damit jedoch ungewollt etwas Altruistisches. Denn durch unsere Lektüre hauchen wir einem schlafenden Gedanken neues Leben ein. Was ist ein Buch, wenn nicht Dornröschen, was ist ein Leser, wenn nicht ihr Märchenprinz, selbst wenn er eine Brille trägt, kaum noch Haare auf dem Kopf hat und achtundneunzig Jahre auf dem Buckel? Ein geschlossenes Buch existiert, aber es lebt nicht. Es ist ein Quader, wahrscheinlich mit einer feinen Staubschicht bedeckt und nichts als eine leere Schachtel. Man könnte sagen, jede Lektüre ist eine Wiedererweckung. Mallarmé hat übertrieben, als er behauptete, der Leser sei der Schöpfer eines Gedichts. »Wiederbeleber« hätte genügt. Wir sind erwachsen genug, um den Leser, so wichtig er auch sein mag, nicht mit dem Schöpfer eines Werkes zu verwechseln.

      Lesen, um die Leichen nicht ruhen zu lassen

      Der Leser ist keineswegs so passiv, wie er glaubt. Dem Anschein nach ein Monolog, ist die Lektüre eine Form der Konversation. Im Übrigen ist das, was man gemeinhin als Konversation bezeichnet, in aller Regel nur ein brillantes Selbstgespräch, dem ein begeistertes oder geduldiges Publikum Gehör schenkt. Beim Lesen wird ein lethargisches Denken wachgerüttelt durch ein scheinbar passives. Dabei wirken zwei Stimulanzien: die Sensibilität und die Erinnerung. Diese entscheiden darüber, welche Passagen uns berühren und wo wir die empfindsame Seite der Literatur finden. Sie und die Lektüre, ihre magere Kusine, haben das Beben gemeinsam. Ein geschriebener und gelesener literarischer Satz unterscheidet sich von denen anderer Textformen durch eben dieses Beben, das wiederum in der Unreinheit der Literatur ihren Ursprung hat.

      Ich neige ein wenig dazu, Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn zu verwenden, ohne Rücksicht auf die Konnotationen, die ihnen der Sprachgebrauch verliehen hat, und das ist ein Fehler. Der Sprachgebrauch schiebt einen bunten Filter vor die meisten Wörter. Wenn ich nicht darauf hinweise, dass ich Wörter ohne diesen Filter verwende, werden sie aller Welt in Farbe erscheinen und keinem so wie mir. Dabei möchte ich behaupten, dass die Verwendung von Wörtern in der Bedeutung, die ihrer Entstehung am nächsten ist, Sätze erzeugt, die den Leser stutzen lassen und seine Neugier wecken; wenn er ihren Sinn begriffen hat, wird er Geschmack daran finden, mehr zu verstehen als andere. Auf diese Weise ließe sich ein Club der Connaisseure gründen. Manchmal, etwa im Fall von Proust, werden solch elitäre Zirkel zu Massenveranstaltungen.

      Zu wissen, dass man am Anfang nur eine Gruppe von Tausend war, reicht für das Selbstverständnis aus. Was für eine versnobte und naive Idee. Nun ja, sagen wir, sie hat etwas Japanisches: Wir sind die kleine Schar derer, die gewillt sind, eine Sache zu bewahren, die fragil und wertvoll und größer ist als wir selbst.

      Wie dem auch sei, das Wort »Unreinheit« habe ich soeben im Sinne von »gemischt« verwendet, so wie auch eine Flüssigkeit unrein sein kann. Die Unreinheit der Literatur rührt nun daher, dass sie dem Denken lachhafte Emotion beimischt. Von daher ihre besondere Form. Ich verallgemeinere: Die Literatur ist etwas Geschriebenes, in das sich Emotionen mischen. Ich glaube nicht an den »Stil« als eine eigene, unverwechselbare Ausdrucksweise jedes guten Schriftstellers. Egos halten sich oft für einmalig. Dabei gehören sie einem Typus an. Die menschliche Person ist heilig, aber die Persönlichkeit gehört einer Gruppe an. Natürlich gibt es Nuancen, was jeden einzigartig und unersetzbar macht (übrigens das stärkste Argument gegen den Mord), aber sie reichen nicht aus, um zu behaupten, man könne an einem einzigen Satz den Schriftsteller erkennen. Man kann den Typ erkennen (den Enthusiasten, den Nörgler, den Rächer …), was natürlich ein Anhaltspunkt ist, aber um die Person zu erkennen, braucht man auch die Gedanken. Uff, ein guter Schriftsteller ist also ein Schriftsteller, der denkt. Das ist auch der Grund, warum besonders gehaltvolle Autoren wie Proust unendlich viele Kommentare nach sich ziehen. Extrem unterschiedliche Leser kommen bei ihm auf ihre Kosten. Jeder Kommentar zieht weitere Kommentare nach sich, und so heiligt sich die kreative Lektüre in der Exegese.

      Hier droht ein Buch zur Bibel zu werden. Doch man liest nicht als Gläubiger, und ein Schriftsteller ist kein Gott. Man kann ihn lieben und verletzen, und ich denke, man hat sogar die Pflicht dazu. Ich bin nicht dafür, die Leichen in Frieden ruhen zu lassen. Eine Leiche, die man in Frieden ruhen lässt, ist endgültig tot.

      Bombardiert die Friedhöfe!, betteln die Skelette, wenn sie nachts die Gräber verlassen, und strecken flehend ihre Fingerknochen den Flugzeugbäuchen entgegen, die blinkend in andere Gefilde verschwinden.

      Man liest nur aus Liebe

      Um es vorab zu sagen – wobei ich vermeintlich klärende Einleitungen, die doch nur Zweifel säen, genauso ablehne wie Schlussworte, die nichts abschließen – um es also vorab zu sagen: Wer viel liest, liest aus Liebe. Anfangs ist man in die Figuren verliebt; dann verliebt man sich in den Autor; und am Ende in die Literatur. Sie ist die Prinzessin, nach der wir ewig suchen, wenn wir dem Gefühl von Reinheit und Frische nachspüren, das wir beim Lesen unserer ersten Bücher empfanden und nun nicht mehr empfinden, was uns vielleicht zu Unrecht traurig stimmt. Wir haben unsere Naivität verloren, aber auch unsere Unwissenheit. Bevor wir lasen, schien uns noch das kümmerlichste Talent ein Pavarotti zu sein. Es ist wie bei einem Forschungsreisenden im Dschungel, der beim ersten Tausendfüßler, der ihm über den Weg läuft, in Entzücken gerät; wenn er nach monatelangen Märschen eine Lichtung erreicht, auf der zum Gesang von Leierschwänzen Feen tanzen, ist er auch hierfür keineswegs unempfänglich. Selbst wenn man viel liest, kann die Quantität der Lektüre ihrer Qualität nichts anhaben.

      Der Zauber der Literatur wirkt häufig in der Kindheit. Viele streifen ihn nie ab. Das sind die Menschen, die aus Romanen Bestseller machen: Frauen, die wie kleine Mädchen von der Liebe träumen, lassen Schund, der sie darüber hinwegtröstet, dass sie einen Rüpel geheiratet haben, der beim Essen die Ellbogen auf den Tisch legt, die 300.000er-Marke erklimmen, und Männer, die immer noch spleenige Teenager sind, verlassen das von Privatsendern übertragene Fußballspiel nur, um von apokalyptischen Idioten geschriebene Zukunftsromane zu lesen.

      Manchmal gesellen sich zu den Rössern der heißen Liebe die Schneepferde des eisigen Wissens, und der weiße Atem, der aus ihren gläsernen Nüstern quillt, nimmt uns unsere Unbefangenheit. (Ah, welch diebisches Vergnügen, schlecht zu schreiben und sich vorzumachen, es sei gut!) Deshalb werden große Leser immer anspruchsvoller: Weil sie gelesen und gelesen und immer weniger empfunden haben, suchen sie in der Rarität die Würze. Sie sind wie Verdurstende, deren Durst selbst mit Tankschiffen voll frischem Wasser nicht zu stillen wäre. Trinken! Trinken!, rufen sie, während sie mit rabiater Geste die edelsten Champagnerflaschen und Liköre von sich weisen.

      Lesen aus Hass

      Manche Menschen lesen aus Hass. Es sind Schriftsteller, die eifersüchtig auf ihre Kollegen, oder Kritiker, die eifersüchtig auf jeden sind. Bei den Erstgenannten heißt es: »Man liest sich nicht gegenseitig, man überwacht sich.« Wie großzügig. Ich nehme an, diese Leute verachten Malraux, der sich, als er einmal das Manuskript eines jungen Autors las, das dieser an den Verlag Gallimard geschickt und das man an Malraux weitergeleitet hatte, auf die Schenkel klopfte und rief: »So ein Freundchen! So ein Freundchen!«. (So hat es zumindest Emmanuel Berl erzählt.) Dass dieser junge Autor genauso schlecht schrieb wie Pierre Drieu La Rochelle steht auf einem anderen Blatt. Drieu hatte eine Art, die Malraux gefallen konnte, zudem war er ein Kind seiner Zeit, und so etwas wirkt modern, wenn es erscheint. Malraux hat in Die Zeit der Verachtung geschrieben – man könne die Welt in Menschen einteilen, denen die bittere Genugtuung, jemanden zu verachten, Freude bereitet, und Menschen, die nicht einmal daran denken. Die Letzteren leben in Gefahr. Man kann sie auch in Malraux-Hasser oder -Nichthasser einteilen. Der Hass auf Malraux war lange Zeit symptomatisch für einen bestimmten Typus Mensch. Irgendwann war es damit wieder vorbei. Wie bei Camus. Camus nicht zu mögen, konnte 1955 bedeuten, dass man unmenschlich war (Faschist

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