Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig

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Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig

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ich mir genauso gern widersprechen lasse. In Meinungsverschiedenheiten habe ich immer ein Vergnügen, ja eine Kunst gesehen. Mir liegt weniger daran, Recht zu behalten, als daran, in Gesellschaft von Menschen zu sein. Man unterhält sich, man diskutiert, man streitet sich, man versucht zu argumentieren, man ist zusammen. Wer mir widerspricht, ist mein Bruder. Man könnte eine Warnung auf Buchrücken drucken: »ACHTUNG! Bücher, die Ihrer Meinung oder Ihrem Geschmack zu sehr entgegekommen, gefährden Ihre Gesundheit.«

      In schwachen Momenten kann das Lesen tatsächlich gefährlich sein. Verantwortlich dafür ist nicht das Buch und auch nicht der Leser allein, sondern das unglückliche Zusammentreffen beider. Auf die Liste der Bücher, die man in schwierigen Momenten nicht lesen sollte, gehört:

Buch Situation
Der Knacks, Francis Scott Fitzgerald wenn man sich am Rand einer Depression befindet
Mein Kampf, Adolf Hitler wenn man seit Jahren arbeitslos in einem Land mit hoher Inflationsrate lebt.

      und viele mehr. Im Grunde kann wohl alles gefährlich sein, auch das Leben, aber dem gibt man nie die Schuld.

      In der sechsten Klasse habe ich miterlebt, wie sich meine Mutter von einem besorgten Lehrer abkanzeln ließ, weil ich Baudelaire las. Ich vergötterte das Gedicht »Das frühere Leben«, welches ich auf die Rückseite eines Posters geschrieben und in meinem Zimmer in einen Schrank geklebt hatte und wie ein Geheimnis hütete. Beim Lesen offenbaren sich unzüchtige, wertvolle und fragile Dinge, man muss nicht alles davon preisgeben. Wenn man ein Buch so liest, wie man eben liest, das heißt still über die Seiten gebeugt, dann sind aus diesem Tête-à-Tête all die Schwindler, Rohlinge und Dummköpfe verbannt, die sich so gern entrüsten, sei es aus Eigennutz oder aus echter Überzeugung. Ich jedenfalls berauschte mich an Baudelaires Gedicht, an den ersten Zeilen: »Ich wohnte lang in einem Säulenwald / Den Meeressonnen bunt in Feuer tauchten«, ein Tableau wie eins der Gemälde von Lorrain, in die ich vernarrt war, Gemälde, auf denen triumphierende und schwermütige Prinzessinnen in der Abenddämmerung an Bord bauchiger Schiffen gingen. Dreißig Jahre später weigerte ich mich, an einer Fernsehsendung über Kinder teilzunehmen, in der ich Literatur empfehlen sollte. »Ich habe dazu nur das eine zu sagen: ›Gebt ihnen Bücher, für die sie noch zu jung sind‹«, antwortete ich dem Journalisten, der mich eingeladen hatte. Mir persönlich ist es damit nicht allzu schlecht ergangen. Kinder haben eine sehr ausgeprägte Moral, sie können sehr gut auseinanderhalten, was gut und was böse, was zulässig und was verwerflich ist. Sie sind unempfänglich für das Perverse und interessieren sich nur für das, was sie wollen. Und vielleicht weckt die Literatur ja ihr ästhetisches Empfinden.

      Der egoistische Leser

      In der Bibliothek meiner Großmama mütterlicherseits standen limitierte Ausgaben in Hülle und Fülle, die sie grands papiers nannte, darunter auch einige handsignierte Werke berühmter Schriftsteller. Das fand ich vornehm, und es steigerte meine ohnehin schon unermessliche Liebe zu dieser Frau. Über Großmutter-Schriftsteller sollte mal jemand ein Buch schreiben. Es gibt Mutter-Schriftsteller wie Albert Cohen. Es gibt Schwester-Schriftsteller wie Flaubert. Es gibt Vater-Schriftsteller wie Stendhal oder Dickens. Es gibt Onkel-Schriftsteller wie Roger Nimier.

      Die Göttergestalt unter den Großmutter-Schriftstellern ist wohl Marcel Proust. Selbst wenn er sein Gelächter hinter dem Ziegenlederhandschuh kaum mehr verstecken kann, während er Zoten zum Besten gibt, ist ihm der wohlwollende Blick einer alten, weißhaarigen Dame gewiss, die streng ist und gütig zugleich und für ihr Leben gern liest. Eben diese Großmutter, nämlich die des Erzählers in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, hat mir nahegebracht, wie reizvoll scheinbar ungewöhnliche Vergleiche sein können. Sie ist diejenige, die eine Ähnlichkeit zwischen Mme de Sévigné und Dostojewski zu erkennen glaubt. Meine brachte mir den Umgang mit wertvollen Büchern bei, deren Code und Verhaltenskodex. Wie die verschiedenen Prägungen auf den ersten Buchseiten zu deuten sind und wie man sie vorsichtig aufschlägt. Hingebungsvoll streichelte ich über das Japanpapier, das sich feiner anfühlte als poliertes Elfenbein. Zu den Schändlichkeiten der heutigen Zeit zählt neben den theokratischen Diktaturen und den Genoziden – wobei, nein, die hat es schon immer gegeben, und da die Gewalt ewig ist und außerordentlich tief im Menschen wohnt, finden die zarten, anrührenden Momente des Lebens gerade an der oft so argwöhnisch beäugten Oberfläche statt, die doch immerhin auch der Ort ist, an dem die Blumen gedeihen, und – ja, ja, ich höre ja schon auf, zu diesen Schändlichkeiten zählt also auch die Tatsache, dass heutzutage kein Japanpapier mehr hergestellt wird. Ich hoffe, dieser Verlust wird durch andere Preziosen aufgewogen.

      Japanpapier war freilich nicht das, worauf ich mich stürzte, wenn ich allein war. Wer liest, muss nicht bibliophil sein, genauso wenig wie ein Bücherliebhaber lesen muss. Man schaue sich nur den Beliebtheitsgrad diverser Schriftsteller an: Georges Duhamel hat aufgrund seiner limitierten Auflagen gerade bei bibliophilen Antiquariaten noch einen hohen Stellenwert, nach dem Urteil der Leser taugt er hingegen nicht mehr viel. Tony Duvert steht bei den Ersten nicht hoch im Kurs, wird aber von Letzteren hochgeschätzt. Ich selbst wollte damals in erster Linie Gedrucktes, das man unterstreichen und dessen Ränder man mit Anmerkungen versehen konnte. Man hatte mir beigebracht, dies sei die beste Art zu lesen, und so ist es auch. Ein Leser ist kein Konsument, der Büchern den Garaus macht, indem er sie verspeist: Wenn man sagt, jemand verschlinge ein Buch, so halte ich dies für ein gewagtes Bild. Ein guter Leser schreibt, während er liest. Er umrandet, streicht durch, kritzelt Kommentare in alle Zwischenräume, die ihm der Buchdrucker gelassen hat. Jeder, dem ich meine Proust- Bände zeige, kann verstehen, warum ich mir regelmäßig neue Ausgaben kaufe. Nicht aus Fetischismus. Ich habe keine andere Wahl. Die Vorsatzblätter und Seitenränder sind gespickt mit meinen Notizen, die wie Regenwürmer in alle Richtungen kriechen und sich bis in die Bundstege hineinwinden; die Zeilen sind unterstrichen, umkringelt, vollgekritzelt. Nicht einmal die Proust’schen paperoles können quantitativ mit meinen Anmerkungen konkurrieren. Ein guter Leser setzt seine Brandzeichen auf die Bücher und nimmt sie damit wie eine Herde in Besitz.

      Vergliche man die Anmerkungen zweier Leser zu ein und demselben Text, würde man erkennen, dass ein Buch keine Skulptur ist, die man sich anschauen kann und die – Katastrophen ausgenommen – ihre ersten Betrachter weit überlebt. Auch wenn ein Buch einen eigenen Sinn, den des Autors hat, nimmt jeder Leser diesen in anderer Weise auf. Dies veranlasste Paul Valéry zu der Bemerkung:

      »Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt. Der, den ich ihnen gebe, passt nur für mich und kann vor niemandem geltend gemacht werden. Es ist ein Fehler, der dem Wesen der Poesie zuwiderläuft und sogar tödlich für sie wäre, zu behaupten, dass jedes Gedicht einen wahren, einzigen Sinn hat, der mit dem Denken des Autors identisch ist.«

      Paul Valéry, Kommentar zu Charmes

      Man liest, um die Welt zu verstehen, man liest, um sich selbst zu verstehen. Und wenn man über ein gewisses Maß an Großzügigkeit verfügt, kommt es auch vor, dass man liest, um den Autor zu verstehen. Ich glaube allerdings, dass nur die größten Leser dazu in der Lage sind, und auch sie erst dann, wenn sie die zwei dringendsten Bedürfnisse befriedigt haben: das Verständnis der Welt und der eigenen Person. Lesen bringt Mumien zum Singen, aber deshalb liest man nicht. Man liest nicht für das Buch, man liest für sich selbst. Es gibt nichts Egoistischeres als einen Leser.

      Lesen verändert uns nicht

      Es ist eine beruhigende und zugleich traurige Erfahrung, bei Werken, die man ein zweites Mal liest, die Randbemerkungen der ersten Lektüre mit den aktuellen Anmerkungen zu vergleichen. Ich habe es getan, anfangs eher beiläufig – denn ich bin weder ein so großer Freund noch ein so erbitterter Feind meiner selbst, dass ich beim erneuten Aufschlagen eines Buches sofort prüfe,

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