Herbst in Nordkorea. Rudolf Bussmann
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Da an der schwer bewachten Grenze zu Südkorea kein Durchkommen ist und der Fluchtweg über das Meer nur selten gewagt wird, spielen sich die meisten Flüchtlingsdramen entlang des Yalu und des Tumen ab. Gegen das nötige Fluchtgeld steht den Flüchtenden ein Netz von Schleppern und Fluchthelfern zur Seite, welche die entsprechenden Pfade kennen und die Grenzsoldaten bestechen. Geflüchtete berichten von abenteuerlichen Transfers bis vor den Fluss, den sie dann allein zu durchqueren hatten. Wie viele Menschen in den nächtlichen Kontrollen der Armee hängen geblieben sind, wie viele erschossen wurden, darüber weiß niemand Bescheid.
Auf der Rückfahrt bleibt es still im Bus. Man wollte bloß mal einen Blick auf den anderen Teil der koreanischen Halbinsel werfen und stand unvermittelt vor einem Fluss, der Schauplatz so mancher Tragödie ist. Man wollte sich auf einem kleinen Bootsausflug amüsieren und fuhr über einen Abgrund. Man stieg am chinesischen Ufer an Land, ohne von einer Kugel getroffen zu werden, nur weil man die richtige Staatsbürgerschaft besitzt.
Der zweite Blick auf Nordkorea eröffnet sich zwei Tage später oben auf dem Gipfelgrat des Paektusan auf 2700 Metern Höhe. Den Ausblick mussten wir uns mit viel Geduld verdienen. Am Vortag war das Wetter so schlecht, dass wir uns am Fuß des weitläufigen Changbai-Gebirges in Bereitschaft halten mussten, in Gesellschaft von Dutzenden chinesischer Reisegruppen. Auch heute warteten wir zunächst vergeblich. Die Gipfel waren von Wolken verhüllt. In den höheren Regionen habe es geschneit, die Schneeräumungsarbeiten seien im Gang, hieß es. Wir mussten mit einer Ersatzwanderung Vorlieb nehmen, stiegen entlang von Bächen zu kleinen Bergseen hoch, vorbei an dampfenden Schwefelquellen und Wasserfällen, blickten in steile Taleinschnitte und bestaunten bizarre Lavaformationen. Eine beeindruckende Landschaft, aber nicht das, was wir sehen wollten. Am Nachmittag dann, einige Reisegruppen waren schon unverrichteter Dinge ins flache Land zurückgekehrt, kam bei den chinesischen Führern Hektik auf. Es konnte ihnen auf einmal nicht rasch genug gehen: Hier, in diesen Bus einsteigen! Kaum waren wir ein paar Minuten gefahren, aussteigen, in einen anderen Bus umsteigen, losfahren, aussteigen. Schließlich wurden wir willkürlich auf kleinere Geländewagen aufgeteilt, Chinesen, Koreaner und ein Europäer, und ab ging’s, mit Allradantrieb die steile Rampe des Bergs in Haarnadelkurven hinan, in forciertem Tempo hoch zu einem Parkplatz ein Stück unterhalb des Vulkanrands.
Von dort marschieren wir in einer langen Kolonne auf einem Trampelpfad durch den Schnee in Richtung Gipfelgrat. Tief unten erstreckt sich in leichten Wellen das Land. Weite hellgelbe Felder ziehen sich hinüber in die Mandschurei, Schatten von Wolken segeln darüber weg. Vor uns am Steilhang ragen vereinzelte Felsbrocken aus dem Schnee. Es ist kalt, die Leute sind in ihre Jacken eingehüllt, haben sich Mützen aufgesetzt, stapfen aufwärts, den Blick zum Boden, um nicht auszurutschen. Die Vulkankrete ist durch eine Absperrung aus Seilen gesichert. Die Menschen stehen dicht an dicht auf einem rund hundert Meter langen Abschnitt, der vom Schnee geräumt ist. Einige haben sich uns zugewandt.
»Warum schauen sie her und winken?«, fragt Yu-mi.
Sie blicken nicht zu uns, sie schwenken ihre Telefone und machen Selfies. Oder sie lassen sich ablichten, mit dem Bergpanorama im Hintergrund. Als wir oben ankommen, entfährt uns wie allen ein Laut des Staunens. Der Boden bricht ab, senkrecht fällt der Vulkanfels in die Tiefe. Hunderte Meter unter uns erstreckt sich in dem ausgreifenden Kessel glatt und unbewegt der Kratersee. Die Sicht hinüber auf die verschneite Caldera, wo irgendwo die Grenze zu Nordkorea beginnt, auf die schwarzen Zacken der erstarrten Lava und hinab in den weit geschwungenen Krater nimmt einem beinahe den Atem. Im See spiegelt sich der stahlblaue Himmel, silbrige Wolken ziehen darüber hin. Oben und unten sind vertauscht, man blickt hinunter in das Firmament. Fast zehn Quadratkilometer Fläche bedeckt der Himmelssee, er reicht bis in eine Tiefe von 384 Metern und zählt zu den bedeutenderen Kraterseen der Erde.
Immer schon und bis heute wird der Paektusan von den umliegenden Völkern verehrt. Der legendäre Gründer des ersten koreanischen Staates, Tan’gun, soll hier als Frucht der Verbindung des Himmelsgottes Hwanung und einer Bärin geboren worden sein. Als höchster Gipfel der koreanischen Halbinsel gilt er im nördlichen wie im südlichen Teil als Symbol eines vereinigten Korea, auch wenn sich Nordkorea bemüht, ihn als den heiligen Berg der koreanischen Revolution der Historiografie des Staates einzuverleiben. Das schwer zugängliche Bergmassiv diente Kim Il-sung, dem späteren Staatsgründer Nordkoreas, und den von ihm geführten Partisanen als Zentrum des Widerstands gegen die japanische Besatzung. In einem Geheimlager in einer verschneiten Blockhütte soll nach nordkoreanischer Darstellung auch Kim Jong-il, der Sohn und Nachfolger Kim Il-sungs, das Licht der Welt erblickt haben. In Wirklichkeit wurde er weit weniger romantisch in einem sowjetischen Ausbildungslager in Russland geboren.
Heute teilen sich Nordkorea und China den Berg. Die Aufteilung fand ohne Beteiligung der Koreaner statt, 1909 in der Gando-Konvention zwischen China und Japan, als Korea unter japanischer Kolonialverwaltung stand; das Abkommen wurde erst 1963 von nordkoreanischer Seite akzeptiert. Der heilige Berg ist längst zu einem Politikum geworden. Und der Tagestourismus auf seine Caldera hat die Aura des Spirituellen, die ihm seit Urzeiten anhaftet, entzaubert. Dennoch vertraute der Ausflug der Präsidenten von Nord- und Südkorea mit ihren Gattinnen vor zwei Tagen auf seine alte Symbolkraft. Von ihm sollte das Signal ausgehen, dass es eines Tages einen friedlichen Zugang aller Menschen und Völker zu diesem Berg geben wird.
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1Das südkoreanische Ministerium für Wiedervereinigung führt eine offizielle Statistik über Flüchtlinge aus Nordkorea, vgl. www.unikorea.go.kr/eng_unikorea/relations/statistics/defectors/.
Über die Grenze
Um sieben Uhr früh wartet an der Rezeption des Yanbian International Hotel in Yanji der chinesische Fahrer, der uns an die nordkoreanische Grenze bringen wird. Es ist ein junger Mann, vielleicht dreißig; von ihm stammt der Brief, der am Vortag unter der Zimmertüre hindurchgeschoben wurde und mit großen ungelenken Buchstaben an den Termin erinnert. Der Mann verbeugt sich und streckt uns sein Smartphone entgegen, auf dem er uns via Übersetzungsprogramm eine gute Reise wünscht. Wir steigen in seinen Wagen.
In der Stadt herrscht dichter Morgenverkehr. Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule oder lassen sie per Taxi hinfahren; einige Mütter sind, ihr Kind an der Hand, zu Fuß unterwegs. Wer ein Fahrrad oder einen der dreirädrigen Kleinwagen fährt, versucht, im gefährlich schmalen Korridor zwischen den Autokolonnen vorwärtszukommen, nur dort wird er geduldet. An den Bushaltestellen stehen die Wartenden eng nebeneinander direkt an der Fahrbahn. Für sie ist kein Platz vorgesehen; sie drücken ihren Rücken, vor ihren Füßen die rasenden Autos, an eine Hecke oder eine Mauer.
Wir verlassen die Stadt mit ihren 650’000 Einwohnern Richtung Osten. Allmählich lichten sich die Häuserreihen, Werkstattschuppen und Fabriken stehen vereinzelter. Auf einer neu gebauten Autobahn fast ohne Verkehr geht es über Hügel mit herbstlich farbigen Wäldern hinunter in die weite Ebene, die der Fluss Tumen geschaffen hat. Wir müssen den nördlichen Zipfel Nordkoreas umfahren. Auf der Höhe der Stadt Hunchun wechselt der Fahrer auf eine Autostraße, gesäumt von Büschen und roten Blumen, die uns südostwärts durch einen wenige Kilometer breiten Korridor zwischen Nordkorea und Russland an die nordkoreanische Grenze bringt.
Wir können über den Grenzübergang bei Quanhedao nach Nordkorea einreisen, der vorwiegend dem Warentransport dient und zudem chinesischen Reisegruppen offensteht. Gewöhnlich werden Touristen in den besser entwickelten Süden geführt, nach Pjöngjang, an die Grenze zu Südkorea und zu den großen Landwirtschaftskollektiven. Von den zwanzig Prozent des Staatsgebiets, die für Fremde überhaupt zugänglich sind, gehört die nordöstliche Ecke nicht zu den Vorzeigedestinationen. Umso größer unsere Neugier, die wenig bekannte Provinz Hamgyŏng-pukto zu besuchen. Die Wahrheit über ein Land ist am