Herbst in Nordkorea. Rudolf Bussmann
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Читать онлайн книгу Herbst in Nordkorea - Rudolf Bussmann страница 6
Ich zögere. Erstmals seit dem Entschluss, hierher zu reisen, kommen mir Bedenken. Hinter diesen säkularen Tempelmauern werde ich nicht nur mein gewohntes Leben aufgeben, sondern auch meinen freien Willen und meine Entscheidungsfreiheit. Ich habe mich auf ein Abenteuer eingelassen, das ich nicht steuern, nicht beeinflussen, nicht unterbrechen kann und aus dem es unterwegs keinen Ausstieg gibt. Ich werde mich Leuten anvertrauen müssen, deren Absichten ich nicht kenne, die uns in der Hand haben, uns die Regeln diktieren und Dinge erklären, die wir nicht nachprüfen können.
Wir ziehen die Rollkoffer über das holprige Pflaster. Genau das, sage ich mir, hast du doch gerade vier Tage lang praktiziert. Du hast deinen Willen an die südkoreanische Reiseleiterin abgegeben und dich zu einem Trip aufgemacht, bei dem du nicht ein einziges Mal nach deinen Wünschen gefragt wurdest. Du hast alles mitgemacht, was für euch vorgesehen war, hast gegessen, was euch vorgesetzt, nicht hinterfragt, was euch gesagt wurde. Kein einziges Mal hast du dich von der Gruppe entfernt oder hast abends das Hotel verlassen. Was misst du jetzt mit ungleichem Maß?
Am Fuß der Freitreppe, die in das chinesische Grenzgebäude führt, fragt uns ein Offizier nach dem Grund unseres Grenzübertritts. Er wünscht uns eine gute Reise und weist uns zum Eingang. Im Innern ziehen einige Dutzend junge Frauen unsere Aufmerksamkeit auf sich, die in akkurater Dreierkolonne vor einer Absperrung stehen, schweigend, mit makellosem Make-up, die Haare streng nach hinten gebunden. Sie tragen Rock und Bluse oder ein Kleid und Pumps. Es sieht aus, als hätten sie sich zu einer Aufführung eingefunden. Keine lächelt, keine verzieht das Gesicht, sie stehen vollkommen ausdruckslos, geduldig und diszipliniert in der Reihe. Einzeln treten sie an den Schalter, wo sie unbeweglich und aufrecht stehen wie vor den Schranken des Gerichts.
»Wer ruft diese adretten Puppen ins Reich von Kim Jongun?«, frage ich Yu-mi.
Yu-mi schaut mich von der Seite an. Ihr rechtes Auge ist zugekniffen, kein gutes Zeichen bei ihr. »Ich weiß nur eines«, sagt sie, »es sind gut gekleidete junge Asiatinnen. Von ihnen als von Puppen zu sprechen, kann nur einem Mann einfallen. Einem Europäer«, ergänzt sie. »Bei einem ähnlichen Aufmarsch junger Pariserinnen würdest du kaum das Wort ›Puppen‹ in den Mund nehmen, oder?«
Zwei junge Männer nehmen uns in Empfang, nachdem wir die Schalter der chinesischen Grenze passiert haben. Es sind unsere nordkoreanischen Führer. Sie nehmen unsere Pässe an sich. Elektronische Geräte und Bücher müssen ausgepackt und auf einem Tisch ausgebreitet werden; sie gehen zusammen mit unseren Pässen einen eigenen Weg, während wir unsere Koffer auf das Laufband legen. Die junge Beamtin am Durchleuchtungsapparat weiß genau, was sie sehen will, die Tasche mit dem Fotoapparat und den Fotospeicherkarten. Diese werden, ebenso wie Bücher und Gadgets, auf einer Personalkarte aufgelistet, die bei der Ausreise wieder vorzuzeigen ist. Erst dann wird uns bewusst werden: Wichtig für die nordkoreanischen Beamten ist weniger, was man einführt, als dass man es wieder mitnimmt. Nichts soll dableiben, was Bilder, Wissen, Unterhaltung aus dem Rest der Welt ins Land bringen könnte.
Als ich den Koffer aufnehmen will, legt sich eine Hand auf die meine. Der Führer wird den Koffer zum wartenden Shuttlebus tragen. Die Innenfläche seiner Hand ist feucht.
Der Bus bringt uns über eine Betonbrücke hoch über der Schlucht, die der Tumen in die Hügel gegraben hat. Auf der nordkoreanischen Seite steigen wir vor einem Gebäude aus. Eben tritt eine Gruppe junger Frauen aus dem Haus, ähnlich schick angezogen wie die auf der anderen Seite. In Zweierkolonne warten sie auf die Ausreise nach China. Kaum haben wir den Bus verlassen, nähern sie sich und steigen wieselflink ein. Auch einige junge Herren in schwarzem Anzug sind unter ihnen. Es sind, erfahre ich auf meine Frage, chinesische Angestellte, die in Nordkorea arbeiten. Sie befinden sich auf dem Weg nach Hause, während diejenigen, die in unserer Richtung unterwegs sind, an ihren Arbeitsort fahren. Wir haben die nordkoreanische Sonderwirtschaftszone Rasŏn betreten, wo sich zahlreiche chinesische und einige russische Unternehmen angesiedelt haben, die eigene Leute beschäftigen. Begegnet uns hier eine Art Wirtschaftskolonialismus, der die einheimischen Arbeitskräfte und das einheimische Kapital an den Rand drängt? Ist das eine Variante des Frühkapitalismus, ist es eine Form des entwickelten Sozialismus oder eine Kombination von beidem?
Vor dem Kleinbus, mit dem wir in den nächsten Tagen unterwegs sein werden, bekommen wir Bücher, elektronische Geräte und Pässe zurück. Als das Gepäck verstaut ist, findet die eigentliche Begrüßung statt. Die beiden Männer, die uns an der Zollstation in Empfang genommen haben, stellen sich als Herr Kang und Herr Lee vor. Sie werden sich um uns kümmern – als Führer, Begleiter, Bewacher, Ratgeber, je nach Situation und Standpunkt. In ihren schwarzen Anzügen sehen die jungen Männer aus wie Maturanden. Der Fahrer tritt neben sie. An den Jacken der Genossen prangt die Anstecknadel mit dem Bildnis des Führers, die jeder nordkoreanische Staatsbürger über dem Herzen zu tragen hat.
»Wir werden betreut wie VIPs«, sagt Yu-mi zufrieden. »Drei Personen, die sich um zwei Reisende sorgen, das lasse ich mir gefallen!«
Die Gegend ist hügelig, Herbstwälder wechseln sich mit Maisfeldern ab. Der Blick verfängt sich in einem Mischwald, der dem des Jura gleicht, Eichen, Buchen, Ahorn, Birken. Ein kleiner Pass mit einem kurzen Ausblick, in der Ferne ein helles Schimmern – das Meer? Dann eine schluchtartige Verengung, die Straße taucht ins Schattige ab.
»Hier.« Herr Kang tippt mir auf die Schulter, zeigt aus dem Fenster. »An dieser Stelle löste sich der Hang. Vor drei Jahren während eines heftigen Regens. Dreihundert Millimeter Wasser in der Stunde, stellen Sie sich das vor! Eine Sturzflut, drei Stunden ohne Unterbrechung. Damit haben wir in Nordkorea zu leben. Der Hang löste sich und rutschte in die Tiefe. Der Bach, den Sie da unten sehen, schwoll innerhalb kurzer Zeit an und wurde zu einem reißenden Fluss. Er hinterließ eine breite Schneise in der Landschaft. Unten war ein Dorf. Es wurde unter Massen von Erde und Wasser begraben.« Herr Kang verstummt.
Der Wald tritt zurück. Die Schlucht läuft in sanft geschwungene Bodenerhebungen aus.
»Sehen Sie die Häuser dort drüben?«
Auf einer Terrasse liegt eine Siedlung mit neuen Häusern, einstöckig und in Reihen gebaut.
»Das Unglück geschah im August. Unser Geliebter Führer gab die Anweisung, sofort mit dem Wiederaufbau zu beginnen, auch die Armee wurde eingesetzt. Es vergingen keine drei Monate, und das Dorf stand wieder. Im Oktober waren die Häuser bezugsbereit.« Er macht eine bedeutsame Pause. »Wie lange dauert es in Europa, bis in einem solchen Fall der Wiederaufbau abgeschlossen ist? Wir schaffen in Nordkorea in gemeinsamer Arbeit das Unmögliche.«
Das nordkoreanische System ist dafür bekannt, dass es Projekte in ungewöhnlichem Tempo voranbringt. Eine hohe Anzahl Arbeitskräfte werden an einen Ort zusammengezogen und konzentriert eingesetzt, gerade auch wenn die nötigen technischen Hilfsmittel fehlen. Die Erwähnung des Führers in diesem Zusammenhang finde ich überflüssig. Später werde ich verstehen. Geschieht etwas auf oberste Anordnung, bedeutet dies, Wunder geschehen. Das nötige Material wird geliefert, die notwendigen Arbeitskräfte stehen zur Verfügung, das Vorhaben wird zügig in die Hand genommen und zu Ende geführt. Wehe aber dem Projekt, dem der Geliebte Führer seine Liebe nicht zuwendet. Es hat es schwer, voranzukommen, meist bleibt es unvollendet liegen.
Die Bergkette, hinter der die chinesische Grenze liegt, zieht sich zu unserer Rechten nach Süden wie das Rückgrat eines