Die Rose im Staub. Sarah Skitschak

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Die Rose im Staub - Sarah Skitschak

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Gesichter, die Gesichter belebter Menschen, verwandelten sich in versteinerte Ausdrücke mit toten Augen, wie man sie sonst auf den Häuptern von Kunstskulpturen auf unseren Stadtplätzen erwarten würde. Womöglich hätte ich wohl als Ungläubiger auf den Besuch derartiger Zeremonien verzichten sollen, doch handelte es sich um die einzige Fluchtmöglichkeit vor den Verpflichtungen eines ungeliebten Alltags …

      … und die einzige Möglichkeit, ein paar Worte mit meiner Mutter zu wechseln; sie einfach zu sehen – wenngleich so manches Mal aus der Ferne.

      Die flammenfarbene Hochsteckfrisur der Hohepriesterin tauchte als erstes, sichtbares Element aus dem Dunst und verriet das Ende der Räucherwanderungen, welche die unguten Gedanken aus den Tempelanlagen treiben sollten. Schon löste sich die Form einer enganliegenden Leinenkutte aus Nebeln, enthüllte die sanduhrförmige Gestalt jener Frau und ließ erstmalig ihre Standposition erkennbar werden. Auf der höchsten Stufe der flachen Tempeltreppen thronte die Hohepriesterin über dem Volk und hielt die Räucherschale über ihrem Haupt erhoben, sodass dünnere Schwaden im Luftzug der Hallen über den Goldrand zu schwappen begannen.

      Sie nahm einen tiefen Atemzug in den Rauch.

      Noch waren ihre Augen geschlossen ... Doch als sich schließlich die Lider hoben und ihre stahlblauen Augen enthüllten, da war mir, als sähe sie jeden Vorgang im Tempel. Als könnte ihr Blick selbst die Säulen durchdringen und jeden der Anwesenden für unzüchtiges Gedankengut strafen, als hätte sie selbst mit geschlossenen Augen jede Bewegung in der Masse verfolgt. Ihre schmale Gestalt ruhte statuengleich auf der heiligen Höhe, schien selbst zu einer Säule des Tempels zu werden und mit dem Reich der Göttlichkeit zu verwachsen. Während sie ihr Kinn auf die gewohnte Position zu senken begann, da senkten sich auch die Rauchschwaden in Richtung des Bodens und verwirbelten um die Säulenkapitelle.

      Die Füße der Betenden standen noch eine Weile im Nebel. Letztlich lösten sich auch diese Wolkenfetzen und verwehten im Nichts.

      Gebannt richteten sich nun sämtliche Blicke auf drei Götterfiguren, die mit ihren gewaltigen Marmorkörpern hinter der Hohepriesterin aus den Wolken tauchten und die Frau in ein unwichtiges Teil eines viel größeren Ganzen verwandelten. Wie Urgiganten stemmten sich die Schöpfer aus den steinernen Böden, trotzten der Schwerkraft mit ihren anmutigen Gesten und hielten ihre schützenden Hände über die winzige Frau mit der Schale. Eine männliche Figur in der Mitte. Zwei Frauen mit gigantischen Steinschalen zu seinen Seiten.

      Ihre Blicke waren auf höhere Sphären gerichtet und schenkten der Priesterin keine Beachtung, sodass lediglich ihre Handgesten ein gewisses Interesse an der Menschheit bekundeten. Ja, neben den Bildnissen ihrer Götter schrumpfte die scheinbare Relevanz der Zeremonienführerin und ließ das Gewicht, die Kraft ihrer Schöpfer, mit einem Male umso größer erscheinen.

      Ich blinzelte.

      In ebendiesem Augenblick der Menschlichkeit erkannte ich noch einmal die Vertrautheit in ihren Zügen und sah mich meiner Mutter gegenüber – nicht der Hohepriesterin, zu der sie dereinst gewählt worden war.

      Sie hat schon immer einen Hang zur Theatralik besessen, dachte ich noch … und rügte mich gleich darauf für einen solch respektlosen Gedanken.

      Mochte ich so manche Entscheidung der Frau nicht gutheißen können, so war sie doch der Mensch, der mich geboren und aufgezogen hatte, der mich – ganz im Gegensatz zu den Behandlungen meines Vaters – aus tiefstem Herzen geliebt und immerzu mit inniger Liebe bedacht hatte. Meine Mutter wusste als Hohepriesterin, das Volk mit gut geplanten Effekten und weise gewählten Worten zu begeistern, doch tat sie es, weil sie bei ihrem Leben an die Existenz dieser drei Gottheiten glaubte und die Liebe zu ihnen im Herzen des Volkes entflammen wollte.

      Ganz gleich, ob ich ihren Glauben teilte, ihn nicht teilte, respektierte oder im Geheimen verfluchte … Sie war stets dem Pfad des Lebens nach bestem Wissen und Gewissen gefolgt, weshalb ich mir ein Urteil über derlei Entscheidungen oder Spott über den Ablauf einer Zeremonie schlichtweg nicht gestattete.

      Nein, ich selbst glaubte nicht an Götter.

      Ich glaubte nicht, dass es weit über unseren Köpfen oder an einem verborgenen Ort im Herzen der Welt eine Macht geben sollte, die über unser aller Leben verfügte oder gar Schicksalsgarne aus Schafswolle knüpfte. Denn dann hätte ich wider mein eigenes Wissen in deren Augen ein Sünder und Schänder sein müssen, dann hätte ich ein Vergehen an den Göttern begangen, dann wäre ich ein schlechter Mensch gewesen, wenn ich den Verlauf meines bisherigen Lebens bedachte.

      Ich hatte nicht eine Regel in meinem Leben verletzt. Noch nicht einmal getötet hatte ich im Auftrag der Stadt.

      Dennoch strafte mich das vermeintliche Schicksal mit einem gewalttätigen Vater, der mich gegen jedes meiner Moralgefühle zu einer Soldatenausbildung zwang und mir seinen eigenen Titel als Senator zum Vorwand hielt. Denn der Sohn eines Senators hatte ein strammer Mann zu werden, sich nicht ausschließlich den Geisteswissenschaften zu verpflichten … und er hatte im Namen der Stadt zu kämpfen, so es seine Ehre verlangte! Der Sohn eines Senators hatte sein Leben dem Soldatendasein zu verpflichten, der Bevölkerung mit seiner Stärke zu imponieren und dem Namen seines Vaters alle Ehre zu machen.

      Ich verabscheute Gewalt.

      Und doch hatte mich das Leben bereits mit meinem ersten Atemzug in eine Welt der Gewalt gesandt. In eine Welt voller Grausamkeiten und Unrecht, in eine Welt, in der ein Senator seine ungehorsame Frau schlagen durfte, in der ein Senator seine Sklaven wie Dreck behandeln und seinen kleinen Sohn noch öfter mit Schlägen bedenken durfte … noch öfter als die Frau, die der Junge zu verteidigen versuchte.

      Ich glaubte nicht mehr an Götter.

      Mir blieb bloß die Dankbarkeit über das Glück, welches meiner Mutter mit der Aufgabe als Hohepriesterin zuteilgeworden war. Hätte man sie vor drei Jahren nicht mit jener Stellung betraut, so wäre sie vermutlich auf ewig an meiner Seite geblieben und hätte sich selbst den Händen ihres eigenen Ehegatten ausgeliefert. Nein, ich schätzte mich zum glücklichsten Menschen, sie mit einem Lächeln auf den Lippen Zeremonien leiten zu sehen und von ihr durch die Tempelanlagen geführt zu werden, die ihr ein neues Heim ohne Gewalttaten boten. Dort konnte ich ihr guten Gewissens versichern, dass ihre Entscheidung die goldrichtige Wahl gewesen war.

      Ihre Sicherheit blieb meine Priorität. Ihr neues Heim ein besonderes Privileg.

      Nun muss ich lediglich mein eigen Leib und Leben schützen.

      Nun kann ich allein mich schützen, ohne mich in Sorge um ihre Sicherheit zu verlieren.

      Mit einer kopfschüttelnden Geste schob ich die Gedanken aus meinem Geist, während die Zeremonie ihren Höhepunkt erreichte, als nun die Beipriesterinnen aus den Schatten der schmalen Tempelsäulen traten und mit anmutigen Schritten einen Weg auf das Hohepriesterplateau suchten. Ihre Gewandungen schwebten über die blankpolierten Böden, schienen kaum mehr als Nebelschleier zu sein und verhüllten doch jegliche Details ihrer Körper. In den Händen trugen sie Krüge aus verzierten Tonscherben unterschiedlichster Farben, in deren Bäuchen sich unser kostbarstes Gut befand: Wasser.

      Wasser, das den Göttern geopfert werden sollte.

      Wasser in zerbrochenen Tonkrügen, die dereinst wieder zusammengefügt worden waren – so wie auch die Götter eine zerbrochene Welt fügen würden.

      Aus den höheren Lagen der Tempelanlage erhob sich ein düsterer Chor aus männlichen Stimmen, deren Urheber in den versteckten Emporen verborgen standen und die Atmosphäre in demutfordernde Vibrationen versetzten.

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