Die Rose im Staub. Sarah Skitschak
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Man hatte mir viele Geschichten über die Säuberungen erzählt. Als die Zeit der vergangenen Maßnahmen näher rückte und man von Säuberungszügen berichtete, da war es mir noch immer möglich gewesen, mich hinter dem Argument der Volljährigkeit zu verstecken und nicht mit den Soldaten durch die Tore der Stadt auf das Land der Namenlosen zu gehen. Doch nun lag der fünfundzwanzigste Lebenssommer bereits über ein Jahr hinter mir, ließ mir keinerlei Argumente, die mir gestatteten, mein größtes Geheimnis noch länger zu hüten.
Die Säuberungen sollten es offenbaren: Es war mir nicht möglich, einen Menschen zu töten.
Ich konnte nicht. Ich war schlichtweg nicht dazu in der Lage.
Nicht, dass ich keinen Versuch gewagt hätte, mich mit dem Gedankengut meines eigenen Volkes anzufreunden oder die Heiligkeit hinter ihren Handlungen zu erfassen. Nicht, dass ich mich nicht unter ehrlichen Mühen zum Verständnis meiner Welt gezwungen hätte – nein, ganz im Gegenteil!
Des Nachts erdachte ich mir zu Übungszwecken die verschiedensten Tötungsszenarien, erprobte mich an der unüberwindbaren Hürde meines Geistes und scheiterte selbst in meiner Vorstellungskraft an dem einen Moment, da mein Gegner das Leben aushauchen sollte. Ich konnte und wollte das dehnbare Moralgefüge meiner Welt nicht mehr verstehen, konnte und wollte niemanden aufgrund seiner Gesinnung töten oder ihm auf andere Weise Schaden zufügen.
In einer Welt aus Privilegien, Privilegienwahrung und Mordlust … da schien mein Gedankengut einem gefährlichen Tanz auf Messers Schneide gleichzukommen.
Säuberungen blieben die religiöse Tradition der Soldaten. Eine Tradition, die unsere Männer zu den Toren der Stadt hinausführte und in ihrer Vernarrtheit des Glaubens zwang, einen ganzen Reiterstamm zu Gefallen der neuen Götter zu meucheln.
Ich wollte nicht an den Säuberungen teilnehmen … und doch wusste ich: Eine Wahl war mir nicht mehr vergönnt.
Mit hämmerndem Schädel ließ ich meinen Blick über den Priestergarten schweifen, konzentrierte mich auf die wippenden Blütenköpfe und versuchte, die Sorge im friedlichen Anblick der künstlichen Oase zu ertränken. Wie ein Traumgebilde legte sich die Natur zwischen Marmormauern und täuschte über die Realität der Wüste außerhalb der Bereiche hinweg, als verleugnete sie vehement die Existenz von Sand, Tod und Staub. Da waren ganze Meere von Jasminbüschen mit weißen Sternen, deren Kelche aus der Entfernung bloß kleine Punkte auf den dunklen Hintergrund zauberten; zahlreiche Sukkulenten, die sich an die Füße steinerner Statuetten schmiegten und an den Bewuchs vor den Stadttoren erinnerten. In Leinen gehüllte Marmorfrauen, die sich mit Schalen über einen Zierbrunnen beugten. Unverhüllte Marmorfrauen, die in ebenjenem Brunnen zu baden schienen.
Es erinnerte an ein menschengemachtes Paradies auf Erden.
So ganz ohne Sorgen. So ganz ohne Not.
Doch in diesen Minuten verwandelten sich die Eindrücke in ein schales Abbild des sonst so bunten Gemäldes, das sich zwischen den Säulenwüsten der Stadt erhob und mit süßen Versprechungen eines besseren Lebens lockte. Selbst die Düfte, die für gewöhnlich meine Sinne glückselig stimmten, verwehten zu einem traurigen wie farblosen Abdruck des Kleinods.
So sehr ich mich zwang … vergessen konnte ich nicht.
Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich eine der Priesterinnen beim Wässern der Feigen; beobachtete ihren Weg von den Säulengängen bis hin zum Zierbrunnen im Zentrum des Gartens und vermochte nicht, ihr honigsüßliches Lächeln auf den Lippen nachzuvollziehen. In kindlicher Sorglosigkeit setzte sie ihre nackten Füße auf das Gras, tanzte förmlich durch den Hof und führte den mit Wasser gefüllten Scherbenkrug an jeden Feigenstamm. Das kühle Nass glitzerte in der Mittagssonne, wie es da an den Pflanzen hinunter zu rinnen begann. Wie von Tau beperlt schienen plötzlich die Blätter.
Tau …
Wohl ein fast vergessener Mythos.
Die Priesterin selbst störte sich nicht an meinen Blicken, blinzelte ganz verzückt auf ihr Werk und wandte sich dann um die eigene Achse, um den Krug am Zierbrunnen erneut aufzufüllen. Ihre Hand tauchte in die schillernde Oberfläche und trieb eine Weile in der Schwerelosigkeit des Elements vor sich hin. Sie genoss den Moment, während ich die Welt im Stillen verfluchte.
Ob ich mich wohl ähnlicher Unbeschwertheit hätte hingeben können, hätte ich nur meinen Glauben an die neuen Götter gefunden? Ob aus mir ein anderer Mensch geworden wäre, würde sich die Frage nach dem Sinn hinter den Dingen … ja, würde sich diese Frage nicht unablässig in meinen Geist bohren, mich quälen, mich foltern?
Ein kurzer Augenblick, ein Wimpernschlag, ein Blinzeln des Kosmos, da ich Neid auf diese Person verspürte. Auf die Priesterin, deren Namen ich nicht einmal kannte. Auf all diejenigen, die nicht sahen, was längst meine Realität geworden war.
»Daegon!«
Sämtliche Muskeln meines Körpers zogen sich in einer Schockreaktion zusammen, als mich die Stimme der Hohepriesterin aus den Gedanken riss. In einer raschen Bewegung wandte ich mich zur Seite, linste in die Dunkelheit des Säulenganges hinein und entdeckte die Silhouette meiner Mutter, die sich allmählich dem Kunstgarten näherte. Ihre Schritte folgten einem energischen Takt, während sie die letzten Meter zu mir überbrückte. Dann traten ihre Füße aus dem Schatten des Vordachs und enthüllten ihre Gestalt dem Licht der Sonne, sodass ihre blauen Augen förmlich zu leuchten begannen.
Leider nicht im Guten. Vielmehr in Sorge.
Mutter raffte ihr Hohepriestergewand in die Höhe, suchte sich einen ebenen Weg über die Grünfläche und stellte sich neben der Marmorbank auf. Einige Augenblicke blieb sie wie versteinert und hielt den Zeigefinger im Ansatz einer Geste, als wollte sie mich abermals an eine der Steinstatuetten erinnern; letztlich überwog die Emotion den Keim der Zurechtweisung. Mutter ließ ihren Finger sinken und schlug die Zeremoniengewandung zur Seite, um sich neben mir niederlassen zu können.
Ich selbst fühlte mich mit einem Male bewegungsunfähig. Die Erinnerung an mein Verschwinden während eines Götteropfers blieb bildhaft bestehen, sodass ich den ersten Impuls der Priesterin sehr wohl für mich zu deuten wusste. Ebenfalls erahnte ich die zurechtgelegten Rügenreden und die geplante Zurechtweisung des eigenen Kindes, das gegen die Norm der Gesellschaft verstoßen hatte.
Nichts dergleichen geschah.
Stattdessen war ein helles Seufzen der Sorge aus ihrem Mund zu vernehmen, als sie die Hand an meine Wange legte und mit verwässerten Blicken in mir zu lesen gedachte.
»Weshalb hast du die Zeremonie vorzeitig verlassen, Daegon?«
Mutters Pupillen zucken unkontrolliert über mein Gesicht, als versuchte sie, sämtliche Ausdrücke in Sekundenbruchteilen zu erfassen. Dann legte sich ihre Stirn in Falten, zog die Augenbrauen gleich mit in die Höhe und verriet mir sämtliche Szenarien, die sie im Geist bereits durchgespielt hatte. Sie kannte mein Geheimnis. Ihr Schmerz überwältigte mich.
»Hätte jemand dein Verschwinden bemerkt und deinem Vater Bericht erstattet – gute Götter, nicht einmal auszudenken!«
Ich entzog mich der unangenehmen Berührung und nahm ihre Hand in die meine, sodass es meiner Mutter unmöglich