Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb Käzmann
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Kakerlaken gibt es rund um den Erdball, v. a. aber in Tropennähe. Sie gelten als Überlebenskünstler, die wenig brauchen, fast alles fressen und lange Trocken- oder Hungerperioden überstehen. Sie scheuen das Tageslicht und sie sind schnell. Lilys Fang, cucaracha americana, die Amerikanische Großschabe kann pro Sekunde das 50-fache ihrer Körperlänge zurücklegen. Beim Menschen entspräche das 320 km/h. In Mexiko gibt es neben verschiedenen draußen lebenden Kakerlaken v. a. zwei Arten, die gerne in menschlichen Behausungen, in Mauerhohlräumen, hinter Fliesen oder Fußleisten leben: besagte cucaracha americana, die bis zu 37 Millimeter groß wird, und die etwa halb so große cucaracha alemana, die Deutsche Schabe.
Viele Menschen finden Kakerlaken abstoßend, aber es gibt andere, die von ihnen fasziniert sind oder sie gar züchten und zwar nicht nur als Futtertiere für Reptilien. Zum Ausprobieren hier ein Rezept für cucarachas al ajillo (Knoblauch-Kakerlaken), das allerdings auch bei Mexikanern nicht auf ungeteilte Begeisterung stößt: Zwei klein geschnittene Chilischoten und fünf fein gehackte Knoblauchzehen in einer halben Tasse Öl erhitzen und ein Dutzend Kakerlaken darin garen. Mit Salz und Pfeffer würzen.
Gesundheitlich problematisch sind nicht die Kakerlaken selbst, sondern dass sie allerlei Erreger herumtragen und auf Lebensmitteln hinterlassen können. Ihre während des Entwicklungsgangs abgestoßene und zu Staub zerfallende Haut sowie ihre Exkremente können Allergien und Asthma hervorrufen.
Die Bekämpfung der Überlebenskünstler ist nicht ganz einfach. Oft wird davor gewarnt, sie zu zertreten. Kakerlaken der Gattung cucaracha alemana tragen ihre Eier unterm Bauch. Diese Eier seien so hart, heißt es, dass man die Nachkommen zwar gewissermaßen zu Waisen mache, aber sie dann an der Schuhsohle mit sich trage und verbreite. Das ist falsch, denn so robust sind die Eier nicht. Richtig ist aber, dass man der Kakerlaken so nicht Herr wird, weil man nur wenige erwischt. Einer Redensart nach kommen bei einer zertretenen Kakerlake hundert andere zur Beerdigung.
Auch in Mexiko setzen professionelle Kammerjäger meist Gift oder Köderfallen ein und überbieten sich zum Teil mit Versprechen wie »¡El mejor sistema para atrapar cucarachas!« (Das beste System, Kakerlaken zu fangen!). Selbst wenn die Mittel wirken, kann es sein, dass die Medizin schlimmer als die Krankheit ist, wenn etwa Gifte nicht nur den Insekten, sondern auch Menschen und Haustieren zusetzen.
Auf jeden Fall ist es ratsam, nach der Reise bei der Ankunft zu Hause sein Gepäck sofort auszupacken, am besten in der Badewanne oder an einer anderen Stelle, wo man möglicherweise mitgebrachte blinde Passagiere gut erwischen kann. »Blind« hat in diesem Fall übrigens eine doppelte Bedeutung: Kakerlaken können fast nichts sehen, aber sehr gut riechen und fühlen. So lösen winzige Härchen an ihrem Körper beim Herannahen von Killer-Füßen blitzschnell einen Fluchtreflex aus.
Anton ist entsetzt. »Aber das kann doch nicht sein! Ich ruf den Ober. ¡Señor! Aquí hay una cucaracha.«
Plötzlich sind die Gespräche verstummt, nur noch die Hintergrundmusik ist zu hören. Besteck wird leise auf den Teller gelegt, Gläser werden lautlos abgestellt und Lily glaubt, die Ohren der anderen Gäste förmlich zu ihnen hinüberwachsen zu sehen, während die Gesichter jetzt ausdruckslos und unbeteiligt in der Gegend herumschauen und nur kurz, wie zufällig, zu ihnen blicken. Lily würde am liebsten im Erdboden versinken. Sie fühlt sich wie ihre Beute, die Kakerlake im Glaskerker, den Zuschauern hilflos ausgesetzt ohne die geringste Möglichkeit zu verschwinden.
EIN LIED VON KAKERLAKEN, MARIHUANA UND REVOLUTION: LA CUCARACHA
La Cucaracha, das spanische Wort für Kakerlake, kennen viele aus dem gleichnamigen Lied mit der eingängigen Melodie. Louis Armstrong hat es gesungen, Bill Haley und auch die Trickfilmfigur Speedy Gonzalez, »die schnellste Maus von Mexiko«. Entstanden ist La Cucaracha bereits im 19. Jahrhundert, berühmt wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts.
Während der Mexikanischen Revolution, den Aufständen gegen den Präsidenten Porifirio Díaz, der das Land lange Zeit mit harter Hand, mit pan y palo (Zuckerbrot und Peitsche), regierte, wurde es als Spottlied gesungen. »Die Kakerlake kann nicht mehr laufen«, heißt es ursprünglich in dem Lied, »weil sie hinten keine Beine hat«. Nun sang man: »weil sie kein Marihuana mehr zum Rauchen hat«, und machte sich damit über einen General lustig, der zu den Gegnern des Rebellenführers Pancho Villa gehörte. Es entstanden eine ganze Reihe von Strophen und Versionen des Liedes, in denen es mal ironisch, mal pathetisch zugeht.
Der Kellner kommt herbeigeeilt. »¿Sí señor?«
Die Antwort braucht er nicht abzuwarten. Mit einem Blick hat er das umgestülpte Wasserglas und den rotbraunen Gefangenen darin gesehen und die Situation erfasst. Mit der ihm eigenen Eleganz schiebt er in einer raschen Bewegung das Glas zur Tischkante und umschließt das herunterfallende Insekt mit seiner Serviette. Die Hand fest ums Tuch und den Fang geschlossen entschuldigt er sich, begleitet von einer knapp angedeuteten Verbeugung, bei Lily und Anton für die molestias (Unannehmlichkeiten) und entschwindet Richtung Küche.
Als wäre nichts geschehen, setzen die Gespräche wieder ein, die Bestecke werden aufgenommen und die Gläser zu den Lippen geführt. Niemand schaut mehr hinüber. Lily ist erleichtert. Das ist noch mal glimpflich ausgegangen. Anton ist nicht so angetan von der Entwicklung.
»Von dem Teller esse ich nichts mehr. Da ist das Ding drauf gefallen. Das ist eklig!«
»Onkelchen ...« Lily legt beschwichtigend ihre Hand auf Antons Arm.
Der lässt sich jedoch nicht beirren, sondern ruft den Kellner erneut herbei und bittet Lily, ihm sprachlich behilflich zu sein. Er möchte ein neues Essen und überhaupt möchte er wissen, ob es hier üblich sei, dass Kakerlaken im Essen herumkrabbeln. Der Kellner bewahrt die Contenance, aber seine Lippen werden etwas schmaler, als er erwidert, dass man gegen die allgegenwärtigen Kakerlaken nun einmal nichts ausrichten könne. Der herbeigerufene Geschäftsführer bietet einen Preisnachlass als Entschädigung an. Doch Anton ist der Appetit vergangen. Als Lily ihre Schweinelende aufgegessen hat, lässt er sich hungrig die reduzierte Rechnung geben und bezahlt.
»Ich bin entsetzt«, sagt er draußen vor der Tür. »In so einem Restaurant hätte ich das nicht erwartet.«
Reingetreten
Das Fremdwort ubiquitär, also allgegenwärtig, könnte extra für die Kakerlake erfunden sein. Wenn man weiß, wie verbreitet die Tierchen sind, wie überlebensfähig und wie schwer zu bekämpfen, dann ist man weniger überrascht, wenn es auch in gehobeneren mexikanischen Restaurants oder Privathaushalten zu Begegnungen der krabbeligen Art kommt. So gewappnet hätte Anton vielleicht ruhiger reagieren können und nicht gleich einen kleinen Skandal verursacht.
Cucarachas sind natürlich auch von Mexikanern nicht gern gesehen. In Bewertungsportalen für Restaurants oder Hotels und in entsprechenden Foren spielt deshalb immer wieder die Frage eine Rolle, ob und wie dreist Kakerlaken am jeweiligen Ort ihr Unwesen treiben. Unser Kellner hätte von Restauranttestern vermutlich nur eine mittelmäßige Benotung bekommen. Mit welcher Geschwindigkeit und unauffälligen Eleganz er die Kakerlake entfernt hat, hätte ihm zwar sicher die volle Punktzahl gebracht, aber sein knausriges Beharren darauf, dass Kakerlaken Schicksal seien, hätte ihn ordentlich Punkte gekostet. Ein frischer Teller mit Gebratenem und zwei Gläschen Schampus aus San Juan del Río hätten die Angelegenheit sicher in einem anderen Licht erscheinen lassen. Und dem Kellner eine brillante Gesamtnote gesichert.
Umgangen
»If you can’t beat them, ignore them« (Wenn du sie nicht schlagen kannst, ignorier sie), könnte man in leichter Abwandlung