Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb Käzmann
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Читать онлайн книгу Fettnäpfchenführer Mexiko - Büb Käzmann страница 8
»Bei uns«, erinnert sich Héctor, »haben die Offiziellen immer Moralpredigten gehalten. Wir sollten fleißig sein, gehorchen und uns für andere einsetzen. Solche Sachen.«
Die beiden anderen haben das Gleiche erlebt, man ist sich einig: »Die Ansprachen waren todlangweilig«.
»Und das Gelöbnis? Warum heben die Kinder die Arme dabei so komisch hoch?«
»Ach das, das ist der saludo romano (römische Gruß)«, erklärt Héctor. »Ich weiß, ihr Deutschen denkt immer, alle seien Nazis, die den Arm so in die Luft recken. Aber die Geste kommt eigentlich aus dem alten Rom.«
»Aber in Italien ist der saludo romano doch verboten!«, weiß Lily von einer Freundin, die als Erasmusstudentin in Rom war. »Also ich finde, das hat tatsächlich was Nationalistisches, wenn schon Grundschulkinder mit Marschmusik und Flaggenschwur in die Woche starten.«
Das ist Lily so rausgerutscht, dabei hat sie sich doch wirklich zurückhalten wollen. Und schon passiert das, was sie eigentlich vermeiden wollte. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion über Geschichte, Symbole, Vaterlandsliebe und die Frage, was Erziehung und was Manipulation ist.
Reingetreten
No politics, no religion, no sex! – so lautet ein in aller Welt verbreiteter Ratschlag dazu, welche Gesprächsthemen man besser meiden sollte.
Bei Smalltalk oder gepflegter Konversation, also Gesprächen, die mit wenig Tiefgang leicht dahinplätschern, sollte man dies sicher beherzigen. Zu groß ist das Risiko, dass sich eine Konfrontation oder, fast noch schlimmer, peinlich berührtes Schweigen einstellt, wo man sich eigentlich zwanglos unterhalten will.
Lily ist hin- und hergerissen. Einerseits will sie niemandem zu nahe treten, andererseits beschäftigt sie das, was sie beobachtet hat, und wen soll sie fragen, was dahinter steckt, wenn nicht die drei?
So richtig »reingetreten« ist sie genau genommen nicht. Sie hat sich bewusst dafür entschieden, die typischen Tummelplätze des Smalltalks zu verlassen und etwas anzusprechen, was brisant ist oder zumindest sein könnte.
Wir haben die Geschichte nicht weiter erzählt. Vielleicht gehen die Beteiligten heillos zerstritten auseinander. Es kann aber auch sein, dass sie sich gegenseitig nähergekommen sind und somit auch den Fragen, um die es hier geht: Was bedeuten mein Land, seine Geschichte, seine Symbole für mich? Gibt es »typisch mexikanische« und »typisch deutsche« Antworten auf diese Fragen oder geht es eher wild durcheinander?
Umgangen
Selbstverständlich kann man der oben zitierten Maxime folgen und politische Themen vermeiden, aber man bringt sich damit möglicherweise um spannende und interessante Begegnungen und Gespräche. Ob man eher den sicheren und ein bisschen langweiligen Weg oder den riskanteren wählt, das hängt natürlich auch von der Einschätzung der Situation und der Gesprächspartner ab. Auf jeden Fall ist es hilfreich, sich ein paar Orientierungspunkte klarzumachen. Hierzu gehören beispielsweise die historischen Ereignisse, die wichtig sind, weil man auch im Alltag immer mal wieder darauf Bezug nimmt, und sei es, dass man wegen eines Feiertags arbeitsfrei hat.
WENDEPUNKTE: WICHTIGE JAHRESZAHLEN
Jedes Land hat seine eigenen Wendepunkte, Jahreszahlen, die im Verlauf der Geschichte einen Einschnitt darstellen oder zumindest so gesehen werden. Für Mexiko gehört die von Spanien erkämpfte Unabhängigkeit (1821) zu den wichtigen Einschnitten sowie das Jahr 1849, als das Land nach dem Krieg gegen die USA mit Texas, Neu-Mexiko, Arizona, Kalifornien, Utah und Teilen von Colorado die Hälfte des früheren Staatsgebietes verlor. 1877 begann und 1911 endete die Herrschaft Porfirio Díaz’, die von Unterdrückung, aber auch beginnender Industrialisierung geprägt war. Von 1910 bis 1921 kämpften die Revolutionäre unter Emiliano Zapata und Pancho Villa gegen die politische und wirtschaftliche Elite.
Nach dem Sieg der Rebellen wurde die Revolution Ende der 1920er-Jahre »institutionalisiert«, als 1929 die Revolutionäre Staatspartei, die spätere Partido de la Revolución Institucional (PRI, Partei der institutionellen Revolution) gegründet wurde. Sie spielt bis heute eine zentrale Rolle in der mexikanischen Politik. 1998 verlor sie erstmals die absolute Mehrheit und erst im Jahr 2000 wurde Vicente Fox von der christlich-konservativen Partido Acción Nacional (PAN, Partei der nationalen Aktion) zum ersten nicht der PRI angehörenden Präsidenten gewählt.
Im 1. Weltkrieg war Mexiko neutral, sodass die für Deutschland und alle europäischen Länder wichtigen Jahreszahlen 1914 und 1918 in Mexiko keine besondere Rolle spielen. In den 2. Weltkrieg trat das Land 1942 als Verbündeter der USA ein, nachdem deutsche U-Boote im Golf von Mexiko zwei mexikanische Tanker versenkt hatten.
Am saludo romano kann man gut sehen, wie stark die Geschichte den Blick prägt. Die italienischen Faschisten haben den alten römischen Gruß benutzt, die Nazis haben ihn kopiert und beide haben dafür gesorgt, dass er wohl für alle Zeiten mit ihren Gräueltaten verbunden wird. Nicht so im fernen Lateinamerika, wo er nicht nur in Mexiko, sondern auch in Ländern wie Argentinien und Chile traditionell den Fahnenschwur begleitet.
Was Lily beobachtet, ist durchaus typisch. Nationale Symbole und Rituale spielen in Mexiko eine weitaus größere Rolle als in Deutschland. Das wird schon von klein auf eingeübt. Hierzu gehört die jeden Montag stattfindende Flaggenehrung in der Schule, die im ley sobre el escudo, la bandera y el himno nacionales (Gesetz über Staatswappen, -flagge und Nationalhymne) vorgeschrieben ist.
Die meisten Mexikaner werden die Nationalhymne singen können, ohne bei ihrem martialischen Text an Böses zu denken. Ob im Fußballstadion oder bei den ceremonias cívicas, den Festakten an den nationalen Gedenktagen – viele singen mit und schmettern den Refrain: »Mexikaner, zum Kriegsgeschrei die Schwerter und das mutige Ross bereit. Auf dass die Erde in ihrem Innersten erbebt beim Donnergrollen der Kanonen.«
So befremdlich das klingt, eine Ausnahme ist das nicht. Viele Nationalhymnen sind wie die mexikanische zu Zeiten entstanden, als kriegerische Auseinandersetzungen noch in frischer Erinnerung waren oder unmittelbar bevorstanden. In der französischen Marseillaise wünscht man sich beispielsweise im Refrain: »Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen.«
Wenn man sich in Gespräche traut, wie Lily es tut, wird man sicher sehr unterschiedlichen Einstellungen begegnen. Bei Weitem nicht alle Mexikaner sind beispielsweise davon angetan, dass in den Schulen so viel Zeit und Aufwand ins Marschieren und Salutieren gesteckt wird.
4
DA GEHT’S LANG, SO UNGEFÄHR
WEGBESCHREIBUNG FÜR ANFÄNGER
Der lange Flug und der Jetlag stecken Anton zwar noch in den Knochen, aber schlafen kann er auch zu Hause und bis zum Treffen mit seiner Nichte Lily ist noch Zeit. Er schaut auf die Uhr. Jetzt sitzt sie vermutlich im Bus, der sie von Puebla hierher bringt.
»Ich komme nach D.F. und wir gucken uns zusammen die Stadt an. Ich hab sowieso frei und kann anschließend noch ein bisschen schwänzen.«
Am Telefon hat Lily sich angehört, als hätte sie schon immer hier gelebt.