Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb Käzmann
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Als sie auf der Suche nach einem Zeitungskiosk durch die Straßen schlendert, hört sie plötzlich vor sich Marschmusik und singende Kinderstimmen. Ein Klinkerbau beherbergt, wie das Schild am Eingang verrät, ein centro escolar (Schulzentrum).
Neugierig tritt Lily an den Zaun, der den Schulhof vom Bürgersteig trennt. Dort im patio macht sie die Quelle der Musik aus.
Kleine Kinder, Grundschüler – Lily schätzt sie auf sechs oder sieben, höchstens acht Jahre –, stehen dort hochkonzentriert in ihren Schuluniformen mit blauen Hemden, die Jungen in grauen Hosen, die Mädchen in grauen Röcken, und singen ein Marschlied zu Trommel- und Trompetenklängen aus einem kleinen Verstärker.
SECHS JAHRE MUSS MAN: SCHULE IN MEXIKO
In Mexiko besteht eine sechsjährige Schulpflicht, die die Kinder in der primaria absolvieren. Daran schließt sich die dreijährige secundaria an, gefolgt von der wiederum dreijährigen preparatoria (Vorbereitungsschule, kurz: prepa), die, wie der Name andeutet, auf das Studium an einer beruflichen Hochschule bzw. an einer Universität vorbereitet und mit dem bachillerato (Abitur) abgeschlossen wird.
Für die Schuluniform, die vorgeschrieben ist, wird argumentiert, dass sie die Zugehörigkeit zur Schule erkennen lasse, Diskriminierung vermeide und dass sie, so die Verwaltung von Mexiko-Stadt, dazu beitrage, Anerkennung aufgrund persönlicher Merkmale und nicht aufgrund der Kleidung zu zollen. Ob die Uniformen tatsächlich zu einer größeren Gleichheit beitragen, kann man in Frage stellen. Wer etwas auf sich hält, seinem Kind gute Chancen sichern will und das nötige Geld hat, schickt den Nachwuchs auf eine Privatschule. In den weiterführenden Schulen sind das rund ein Fünftel der Schüler. Da jede Schule ihre eigene Uniform hat, kann man private und staatliche Schüler leicht auseinanderhalten, vorausgesetzt man kennt die örtlichen Schulen und ihre Farben. Und die staatlichen Schulen haben nicht den besten Ruf.
Trotz der allgemeinen Schulpflicht war die Analphabetenrate lange Zeit recht hoch. Sie ist in den letzten Jahren zurückgegangen, betrug aber 2018 noch über 4 Prozent. Besonders stark ist die indigene Bevölkerung davon betroffen. In Oaxaca liegt die Rate mit fast 13 Prozent deutlich über dem Durchschnitt, bei Frauen ist sie dort doppelt so hoch wie bei Männern. In ländlichen Gebieten müssen die Kinder, v. a. die Mädchen, oft mitarbeiten und besuchen deshalb nicht oder nicht regelmäßig die Schule. Außerdem fehlt es an Geld für Schulutensilien bis hin zur Uniform, manche Eltern sprechen kein Spanisch, zum Teil fehlen Dokumente wie Geburtsurkunden, die für den Schulbesuch Voraussetzung sind.
Am Rand des Schulhofs stehen neben dem Verstärker drei Frauen, vermutlich Lehrerinnen. Sie singen nicht mit, sondern halten ihre rechten Hände stumm vor die linke Brust. Vielleicht ein Gruß oder eine Ehrenbezeugung?
Das Marschlied ist zu Ende, eine Kinderstimme kommandiert: »¡Un paso adelante!« (Einen Schritt nach vorne!), und aus den beiden Kindergruppen, die in zwei Reihen einander gegenüberstehen, tritt je eine Schülerin einen Schritt nach vorne. Eine trägt die mexikanische Flagge, die sie in einer eingeübten Abfolge an die andere übergibt. Eine der Lehrerinnen hilft ihr dabei, während ihre Kolleginnen, die Rechte weiterhin an die Brust gelegt, wie zu eigenartig grüßenden Salzsäulen erstarrt dabeistehen.
FLAGGE ZEIGEN
Auf den ersten Blick sieht die grün-weiß-rote mexikanische Flagge wie die italienische aus, in deren Mitte man ein Wappen mit Adler gemalt hat. Allerdings sind das Grün und das Rot dunkler. Solange der mexikanische Staat katholisch geprägt war, symbolisierten die Farben die Unabhängigkeit von Spanien (grün), die Reinheit des katholischen Glaubens (weiß) und die Verbindung zwischen Europa und Amerika (rot). Das änderte sich im 19. Jahrhundert mit der Verweltlichung des Staates unter Benito Juarez (1806–1872, mexikanischer Präsident, der als Begründer der Republik gilt). Seitdem steht Grün für die Hoffnung, Weiß für die Einheit und Rot für das Blut der Nationalhelden.
Ein Adler, der auf einem Feigenkaktus sitzend eine Schlange im Schnabel hält, ist Bestandteil der Flagge und bildet außerdem das Staatswappen. Mit diesem Bild wird die aztekische Legende aufgegriffen, wonach ein Adler den herumziehenden und nach einer Bleibe suchenden Vorfahren den Ort gewiesen hat, wo sie sich niederließen und Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, gründeten. Der Adler war erstmals im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (1810–1821) Wappen- und Standartentier.
Wappen und Fahne spielen bei vielen Ritualen eine wichtige Rolle. Es gibt eine eigene Flaggenhymne, die toque bandera, und den Flaggenschwur juramento a la bandera. Das Aufsagen des Schwurtextes begleitet der saludo romano (römische Gruß). Am Flaggentag, dem 24. Februar, steht die Fahne selbst im Mittelpunkt, aber auch am Unabhängigkeitstag, mit dem am 15. und 16. September die Loslösung von Spanien gefeiert wird, sowie am Revolutionstag (20. November) wird sie unter dem Gesang der toque bandera gehisst und bei Paraden und Appellen herumgetragen.
Auf Halbmast hängt sie u. a. an den Todestagen des letzten aztekischen Herrschers Cuauhtémoc (1496–1525) und des Revolutionärs Emiliano Zapata (1879–1919), aber auch zur Erinnerung an tragische Naturereignisse und politische Katastrophen wie das furchtbare Erdbeben von 1985 oder das Militärmassaker an protestierenden Studenten in Mexiko-Stadt kurz vor den Olympischen Spielen 1968.
Nach der Fahnenübergabe piepst eine Kinderstimme Kommandos, und die Kleinen marschieren herum und singen ein Marschlied. Fasziniert verfolgt Lily die Zeremonie, in der jetzt etwas passiert, was sie zunächst an die Fürbitten in einem katholischen Gottesdienst erinnert. Ein Kind spricht etwas vor, die anderen Kinder sprechen im Chor nach. Als sie konzentriert zuhört, erkennt sie, dass die Kinder eine Art Gelübde ablegen. So geloben sie, sich einzusetzen für libertad y justicia (Freiheit und Gerechtigkeit) als Grundlage für die Einheit der Nation. Peinlich berührt sieht sie, dass die Kinder beim Gelübde den rechten Arm zu etwas ausgestreckt halten, das Lily fatal an den Hitlergruß erinnert, auch wenn sie das nie laut sagen würde. Die Kleineren haben Mühe, ihre Ärmchen so lange hochzuhalten, sodass sich ein Auf und Ab der hochgereckten Hände ergibt. Das lässt das Ganze zum Glück doch eher putzig als furchteinflößend wirken.
Nun scheint der martialisch-offizielle Teil der Zeremonie beendet zu sein und es beginnt ein Tanzspiel. Erst jetzt fällt Lily auf, dass einige Erwachsene, wahrscheinlich Eltern, am Rand des Geschehens stehen. Immer wieder zückt einer von ihnen sein Handy, um das Ereignis festzuhalten.
Nach einer Weile reißt Lily sich los und macht sich zu ihrem neuen Lieblingscafé auf. Was sie gesehen hat, beschäftigt sie so sehr, dass sie vergisst, unterwegs eine Zeitung zu kaufen. Sie käme aber ohnehin nicht zum Lesen, denn vor dem Café sitzen Héctor und zwei ihrer Kommilitonen. Die drei haben wie Lily beschlossen, dass der Morgen zu schade für eine Vorlesung ist. Nach großem Begrüßungs-Hallo tauscht man Wochenenderlebnisse und Lästereien über Uni-Dozenten aus. Irgendwann hält es Lily nicht mehr aus. Der Pausenhofdrill mit den Grundschulkindern beschäftigt sie zu sehr. Sie erzählt, was sie erlebt hat, versucht aber neutral zu bleiben, weil sie nicht weiß, wie ihre Bekannten darüber denken.
»Ist das üblich hier in Mexiko, so eine Parade in einer Grundschule?«, fragt sie zum Schluss und bemüht sich dabei um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck.
Ja, ja, bestätigen die anderen, und alle reden durcheinander, um von ihren eigenen Kindheits- und Jugenderlebnissen mit Flaggenparaden und Aufmärschen zu erzählen. Montags habe es auch früher schon eine Flaggenparade gegeben, da sei die Flaggenhymne und die Nationalhymne gespielt worden, bei