Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Fettnäpfchenführer Russland - Veronika Wengert страница 4
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Stopp, Herr Müller! Nicht so voreilig! Russische Bären laufen natürlich nicht einfach frei auf dem Frankfurter Flughafen herum. Und falls diese ihre Verdauung nach dem Verzehr eines Passagiers noch mit einer Flasche Wodka fördern sollten, dürfte dies nicht nur Tierpsychologen, sondern vermutlich auch sämtliche Paparazzi im Land in Aufruhr versetzen.
Auch in Russland gibt es selbstverständlich Warteschlangen, die respektiert werden. Denn solche Schlangen – übrigens eine ungewohnte Gattung, die weder beißt noch giftig ist, dafür langlebiger als der nordsibirische Permafrostboden sein kann – gehörten fest zum sowjetischen Alltag. Mangelwirtschaft und leere Regale prägten das Leben der Menschen. Wenn es etwas zu kaufen gab, und seien es nur taubenblaue Stoffturnschuhe in Größe 41, reihte man sich eben stundenlang in die Warteschlange ein. Später würde man die Schuhe schon mit jemandem tauschen können für ein Produkt, das man selbst benötigte. So funktionierte die sowjetische Planwirtschaft im Alltag. Manchmal konnte es auch vorkommen, dass für eine Ware massiv Propaganda gemacht werden musste, um diese dem Volk schmackhaft zu machen – und das Produkt letztlich unter die Leute zu bringen: Fischkonserven etwa, weil die staatlichen Betriebe zu viel davon produziert hatten und man nicht wusste, wohin damit. Die Fabriken orientierten sich bekanntermaßen am Plan statt an der Nachfrage.
Doch nicht nur vor den Geschäften gab es lange Reihen: Um einen Blick auf den bleichen, mumifizierten Lenin in seinem Mausoleum zu erhaschen, wickelte sich die Menschenschlange mindestens einmal munter um den Roten Platz in Moskau. Und als 1990 der erste McDonald’s der Sowjetunion auf dem Moskauer Puschkinplatz eröffnete, rasselte die Schlange ungewohnt heftig: Vier Stunden dauerte die Wartezeit für Big Mäc und Co.! Über 30.000 Menschen waren zur Einweihung der amerikanischen Fast-Food-Kette gekommen, mehr als je in einem anderen Land zuvor! Dabei gab es natürlich auch ganz Findige, die davon profitierten: Diese reihten sich in die Schlange, um die gekauften Burger später vor der Filiale teurer zu verkaufen, eben mit einem gewissen »Warteschlangen-Zuschlag«.
Den enormen Menschenauflauf bei der Eröffnung des ersten Mc-Donald’s in Moskau sieht die Markenforscherin Luise Althanns als Zeichen dafür, dass die Bürger mit der sowjetischen Lebensrealität sehr unzufrieden waren. Die Neugier auf Westprodukte habe die Menschenmassen angelockt, beschreibt Althanns in ihrem Buch »McLenin« den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Die Schlangenkultur in Russland hat bis heute ihre festen Regeln. Gewöhnlich wird der Letzte in der Reihe von einem Neuankömmling gefragt, ob er auch wirklich der Letzte sei: »Wy posljednyj?« So klingt das dann auf Russisch. Auch wenn es offensichtlich ist und sonst weit und breit niemand zu sehen ist.
Solche Fragen hängen wiederum mit einer beliebten Abwandlung der Schlangenkultur zusammen: dem »Platzhalter-Phänomen«. Die Spielregeln sind einfach: Man sagt einfach seinem Hintermann kurz Bescheid, dass man später wiederkommt, und nutzt die gewonnene Zeit, um andere Besorgungen zu erledigen. So kann es sein, dass zwar nur drei Menschen sichtbar in der Schlange stehen, diese allerdings weitere zehn Plätze »hüten«. Und so reißt die Warteschlange nur schleppend ab, da immer wieder jemand hinzukommt, der schon einmal da gewesen war.
Doch zurück nach Deutschland: Der Bär in der Frankfurter Abfertigungshalle mag nicht sonderlich höflich wirken. Nun ja, vielleicht stand er bereits vorher in der Schlange und ist nun wieder zurückgekehrt? So genau wissen wir das nicht, da unser Herr Müller ja erst Russisch lernt und ihn nicht verstanden hat. Das soll kein Plädoyer für Drängler sein, aber ganz so unschuldig ist der Karlsruher Geschäftsmann auch nicht. Dieser hat sich nämlich, nachdem er schon länger in der Schlange stand, nicht wirklich dynamisch mitbewegt – zumindest für russische Maßstäbe. Dadurch, dass er nicht aufgerückt war, entstand eine Lücke. Und in diesen Zwischenraum hat sich der »Bär«, letztlich auch hineingeschoben, da er dachte, Herr Müller würde einfach so in der geschäftigen Halle herumstehen – statt in der Warteschlange.
Der »Bär« ist Russe, Herr Müller Deutscher. Beide haben eine unterschiedliche Auffassung von Körperdistanz. Entsprechend nah ist Herr Müller – zumindest für sein eigenes Empfinden – zum Vordermann aufgerückt. Für unseren »Bären« war das jedoch zu viel Zwischenraum und daher hat er diesen Abstand als »Nicht-Anstehen« interpretiert. Die so genannte Intimzone beginnt im westlichen Europa etwa bei einer Armlänge Entfernung vom Körper: In diese Sphäre werden nur nahestehende Menschen hineingelassen. Wer in diesen Radius eindringt, wie es der »Bär« getan hat, wird als unangenehm und aufdringlich empfunden.
Die Auffassung, was als Intimzone gilt, unterscheidet sich – was manch einen Westeuropäer ganz schön irritieren kann. Wenn die Intimzone so knapp bemessen ist, was folgt danach? Die so genannte persönliche Zone, mit einer Distanz zwischen einem halben Meter und einem Meter. Steht also jemand einen Meter von Ihnen entfernt und unterhält sich mit Ihnen, ist das angenehm – ohne als aufdringlich empfunden zu werden. Der Abstand bis zu vier Metern, also rund um die Warteschlange am Check-in-Schalter wäre die soziale Zone, der gesamte Frankfurter Flughafen die öffentliche Zone.
Doch zurück zu unserem Protagonisten: Herr Müller weiß noch nicht, was er in Moskau täglich – spätestens jedoch bei seiner ersten Fahrt mit der Metro, wie die U-Bahn dort genannt wird – erleben wird. In der Metro wird ein für westliche Ausländer recht befremdliches Spiel gespielt. Es heißt »Kniekehle-an-Kniekehle«. Hält man auf der Rolltreppe eine Stufe »Sicherheitsabstand« zum Vordermann, wird es vermutlich nicht allzu lange dauern, bis ein Überholender den Zwischenraum auffüllt. Dass man dabei den Atem des Hintermanns regelrecht im Nacken spüren kann, scheint niemanden ernsthaft zu stören. Der geringere Abstand in der Intimzone und der persönlichen Zone gilt generell für Warteschlangen aller Art: Stellt man sich in einer Bank an, kennt man gewöhnlich recht bald die Hausnummer und Höhe der Kreditrate der Mitwartenden.
Doch woher kommt das? Die geringere Körperdistanz in der Öffentlichkeit hängt zuweilen mit den beengten Lebensverhältnissen vieler Russen zusammen: Wohnraum in Großstädten ist knapp, oft leben mehrere Generationen in einer Wohnung oder gar in einer Kommunalwohnung, die umgangssprachlich kommunalka genannt wird. Solche Gemeinschaftswohnungen waren in der Sowjetunion weit verbreitet: Mehrere Familien teilten sich Küche und Bad miteinander. Entsprechend werden die Begriffe »Enge« oder »Privatsphäre« anders aufgefasst als in Westeuropa. Noch heute wohnt fast ein Zehntel der Stadtbevölkerung von St. Petersburg, früher eine Hochburg dieser Wohnungsform, in einer kommunalka. Auch wenn in den vergangenen Jahren viele Kommunalwohnungen verschwunden sind und saniert wurden, gibt es sich noch. So günstig das Wohnen dort sein mag: Das Zusammenleben in einem einzigen Zimmer führt nicht selten zu zerrütteten Ehen, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt. Andererseits sollen in einer kommunalka schon viele Liebesgeschichten begonnen haben. Einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren, Viktor Jerofejew (»Die Moskauer Schönheit«), bezeichnete die kommunalka einmal als »Vorhölle«.
Eine unterschiedliche Auffassung von Privatsphäre gilt übrigens auch für Besucher in russischen Wohnungen. Wenn Sie bei Freunden oder in einer Gastfamilie untergebracht sind und sich in ihr Zimmer zurückziehen möchten, werden Sie vermutlich nicht lange ungestört bleiben: Ihr Gastgeber hat Angst, dass Sie sich langweilen könnten, und wird Ihnen vermutlich einen Tee anbieten oder die Nase zum kurzen Plausch durch die Zimmertür hineinstecken.
Was können Sie besser machen?
Erinnern Sie sich an eine Retro-Zigarettenreklame, die in den 1980er-Jahren aktuell war? »Wer wird denn gleich in die Luft gehen?«, appellierte ein zufrieden lachendes Männchen namens Bruno an die Verbraucher. Vielleicht sollten wir Herrn Müller solch einen Aufkleber mit auf den Weg geben, den er im Bedarfsfall an die Felljacke eines Vordermanns