Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
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Noch etwas: Trainieren Sie schon mal einige Vor- und Vatersnamen, damit Sie diese gleich parat haben, wenn Sie einem Geschäftspartner vorgestellt werden. Übrigens wäre Paul Müller in Russland Paul Wolfowitsch Müller, da sein Vater eben Wolf hieß.
Und wie wäre ihr Name? Legen Sie sich schon mal einen zurecht, falls Sie gefragt werden, auch wenn sie als Ausländer vermutlich nie davon Gebrauch machen werden.
4
HERR MÜLLER GEHT UNTER DIE CO-RENNFAHRER
WER IM STRASSENVERKEHR BREMST, HAT VERLOREN
Mischa ist ein Hüne. Zu Sowjetzeiten war er als Kernphysiker tätig, heute ist er Fahrer für die Repräsentanz, die Herr Müller leiten wird. Was für eine Verschwendung von Potenzial! Aber man sollte in Russland niemanden nach seinem gegenwärtigen Beruf beurteilen, vor allem nicht in Moskau und St. Petersburg. So arbeiten viele Germanistinnen als Sekretärinnen und Wissenschaftler als Kellner. Moskau und St. Petersburg sind die teuersten Städte des Landes, und selbst wer eine Eigentumswohnung hat, kommt kaum mit nur einem Job über die Runden, sondern hat noch eine Nebentätigkeit. Ohne Arbeit zu sein kann sich niemand leisten.
In den Händen des großen, athletischen Fahrers wirkt das Lenkrad des schwarzen Wolga wie ein Spielzeug. Mit quietschenden Reifen setzt Mischa den Wagen vor dem Flughafen in Gang, während Herr Müller noch am Sicherheitsgurt nestelt.
Wolga heißt nicht nur Russlands längster Fluss, sondern auch eine Automarke. Diese rollt im zentralrussischen Nischnij Nowgorod vom Band, wo die GAS-Werke seit 1932 angesiedelt sind. Gegründet wurde die Fabrik im Zuge des ersten Fünfjahresplans der Sowjetunion.
GAS/GAZ ist übrigens eine Abkürzung für Gorkowskij Awtomobilnyj Sawod, dem Gorkier Autowerk. Nischnij Nowgorod hieß zu Sowjetzeiten Gorkij, daher steckt die alte Städtebezeichnung noch im Firmennamen. International durchgesetzt hat sich allerdings die englische Transkription GAZ, auf Deutsch wird das Werk auch als GAS transkribiert.
»Njet!«, winkt Mischa ab, der die Fellmütze auch im Auto aufbehält (diesmal eine Variante mit herunterklappbaren Ohrteilen, die sich auf dem Kopf zusammenschnüren lassen). »Nje nado!« Mischa klingt bestimmt.
Ob der Gurt möglicherweise kaputt ist? Ein Bekannter sei bei einem Unfall von einem Gurt stranguliert worden, übersetzt Natascha Mischas Argument gegen das Anschnallen.
Mischa steuert den Wagen auf eine mehrspurige Ausfallstraße, die ins Zentrum von Moskau führt, den Leningradskij Prospekt. Der Straßenname wurde beibehalten, auch wenn Leningrad heute längst St. Petersburg heißt. Doch halt, nur fast: Denn das Verwaltungsgebiet um die zweitgrößte russische Stadt nach Moskau hat weiterhin seinen alten Namen behalten: Leningradskaja oblast. Überhaupt heißen einige der rund zwei Dutzend großen Ausfallstraßen in Moskau so wie der Ort oder die Gegend, in deren Richtung sie führen.
Überdimensionale Werbeplakate, von denen Mandelaugen und rote Münder hinablächeln, ziehen im Schneckentempo vorbei. So viel Anmut inmitten von hohen grauen Schneebergen stimmt Herrn Müller vergnügt. Doch die Freude währt nur kurz, denn zwei Stunden später steckt der Wolga immer noch in der Blechkolonne fest.
Der Stau löst sich schließlich auf – und Mischa gibt Gas. Nun scheint sich der Fahrer fast wie bei einem Skislalom zu fühlen. Zuerst ersetzt ein tannengrüner Schiguli die fehlenden Slalomstangen, dann ein mannshoher Jeep mit getönten Scheiben. Das Einfädeln funktioniert nach folgendem Prinzip: Blinker setzen ist verpönt, ebenso darf der Fuß keinen Millimeter vom Gas bewegt werden.
Paul Müllers Blick fällt auf die kleine Ikone, die auf der Fahrerkonsole klebt. Mischa muss einen guten Draht zum Herrgott haben, fährt es Herrn Müller durch den Kopf. Ob das auch für seine Beifahrer gilt?
Dann bremst Mischa abrupt. Aus seinem Mund sprudelt ein Redeschwall. Seine Flüche sind an dieser Stelle leider der Zensur zum Opfer gefallen, da sie nicht ganz vornehm und schon gar nicht jugendfrei waren. Prima, dass Herrn Müllers Russisch nicht so gut ist!
Natascha spielt verlegen mit ihrem Schal. Dann erklärt sie mit flüsternder Stimme, dass sich Mischa über den Fußgänger am Zebrastreifen aufgeregt habe, der einfach so über die Straße marschiert sei.
Herr Müller schaut verwirrt. »Ja sicher, dazu ist ein Zebrastreifen doch da!«
Natascha nickt. »Aber das ist ein großes Risiko, für beide Seiten.«
Herr Müller grübelt kurz. Zebrastreifen als Risiken? Das konnte ja heiter werden in dieser Stadt!
Ein schwarz-weißer Polizeistock stoppt die Anwartschaft auf den großen Slalom-Pokal von Moskau jäh. Im Fahrerfenster taucht ein Männergesicht mit grauer Fellmütze und Wappen über der Stirn auf. »Dokumenty!«
Aha, den barschen Befehl versteht auch Herr Müller. Dokumenty ist der russische Sammelbegriff für Ausweispapiere, Führerschein und Co. Mischa streckt die Wagenpapiere zum Fenster hinaus. Die Stimmen der beiden Männer werden immer lauter. Natascha flüstert Herrn Müller vom Hintersitz zu, dass der Gaischnik Mischa überhöhte Geschwindigkeit vorwerfe.
Wer? Spontan schießt Herrn Müller die Assoziation mit dem englischen gay in den Kopf ... (Bloß nicht Gay [Schwuler] und GAI [russische Verkehrspolizei] verwechseln. In Russland geht man mit Homosexualität nicht so unbefangen wie in Westeuropa um.)
Mischa verschwindet mit dem Verkehrspolizisten. Nach einer Weile steigt er wieder ein und gibt erneut Gas, diesmal mit heulenden Reifen. »Nitschego – Ach nichts«, winkt er ab. Es sei besser, solche heiklen Fragen direkt vor Ort zu klären, erklärt Natascha mit verschwörerischer Stimme.
Und weiter geht der große Slalom-Cup. Herr Müller fühlt sich wie der Co-Pilot eines verhinderten Rallyefahrers. Sicher muss Mischa zu Hause eine ganze Sammlung von Formel-Eins-Rennfahrer-Stickern haben, die er sich mit stolzer Brust in ein Sammelalbum klebt, fährt es ihm durch den Kopf. Nie wieder würde er sich über deutsche Autofahrer mit selbst gestrickten Toilettenpapieretuis auf der Hutablage ärgern, die mit Tempo 90 über die Autobahn schleichen. Alles war besser als diese Achterbahnfahrt im Moskauer Stadtverkehr! Und überhaupt würde er bald im Internet recherchieren, was es denn mit dem autonomen Fahren auf sich hat und ob man das nicht in Russland ein wenig eher einführen könnte, überlegt Paul Müller.
Mischa reißt das Lenkrad nach rechts und stoppt, wie die gesamte Kolonne, am Fahrbahnrand. Auf einmal blitzt ein Blaulicht im Rückspiegel. Ein Unfall?
Natascha schüttelt den Kopf. »Der Präsident fährt nach Hause«, erklärt sie, »dann wird die Straße gesperrt.«
Herr Müller ist verdutzt.
»Morgens fährt er in die Stadt, abends wieder nach Hause. Dabei hat er natürlich Vorfahrt«, so die Assistentin.
Ob es so etwas in Berlin auch gibt, dass kurzerhand der Verkehrsfluss auf einer mehrspurigen Ausfallstraße zum Erliegen kommt, nur weil das Staatsoberhaupt vielleicht Hunger hat und zum Abendbrot pünktlich zu Hause sein will?