Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
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Es gilt das Recht des Stärkeren, fast wie im Tierreich: Je größer das Auto, desto ungehemmter darf der Fahrerkamm anschwellen. Tempo 100 im Stadtverkehr? Solange es die Polizei nicht sieht, ist erlaubt, was gefällt. Und das ist so ziemlich die einzige Regel, die weitgehend akzeptiert wird. (Offiziell gilt natürlich auch in Russland eine erlaubte Höchstgeschwindigkeit: Tempo 60 innerhalb von geschlossenen Ortschaften.)
Zebrastreifen? Die wurden bestimmt nicht in Russland erfunden! Vielleicht als Verzierung des sonst so eintönig grauen Asphalts. Oder um die Straßenbauer im Zuge sozialistischer Fünfjahrespläne mit den entsprechenden Markierungsarbeiten auszulasten – allerdings sicher nicht, um Fußgänger als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer über die Straße zu lassen. Wer dennoch bremst, sorgt für ein lautstarkes Hupkonzert der nachfolgenden Kolonne. Die Fußgänger schauen zudem wie verschreckte Kaninchen, wenn ein Auto freiwillig anhält, nur um dem zuvorkommenden Verkehrskavalier dennoch nicht über den Weg zu trauen. Das konnte nur ein Irrer sein, der gleich Gas geben und in die Menschenmenge rasen würde! Oder ein Betrunkener! Im harmlosesten Fall: ein Ausländer! Okay, das mag ein wenig übertrieben formuliert sein, aber für die ältere Generation von Autofahrern gilt das nach wie vor.
Herr Müller hat seinem neuen Fahrer Mischa zum Start schon mal keinen Vertrauensvorschuss gewährt. Warum? Anschnallen galt in Russland Jahrzehnte lang als Beleidigung des Fahrers. Dieser ging dann davon aus, dass Sie seinem Fahrstil nicht vertrauen. Und viele Russen lehnen den Gurt nach wie vor ab. Ein Stück Textil soll helfen? Dann doch lieber gleich Nikolaus, der Wundertäter. Der Heilige, der an jeder Fahrzeugkonsole klebt und den Herr Müller auch gesehen hat, gilt übrigens als Schutzbeistand der Reisenden.
Überhaupt scheint im russischen Straßenverkehr manchmal göttlicher Beistand mehr wert zu sein als der gesunde Menschenverstand: Orthodoxe Priester weihen Fahrzeuge oder sprechen ein Gebet für Fernstraßen und Autobahnen. An einigen mit Weihwasser besprenkelten Zebrastreifen im Land sollen schon erste Erfolge sichtbar sein: Die Unfallzahlen sind rückläufig! Und für alle Fälle sind, zumindest im südrussischen Gebiet Krasnodar, die »Zehn orthodoxen Verkehrsgebote« schon auf den dortigen Straßen verteilt worden!
Doch nicht nur die Kirche, auch der Staat hat in der Vergangenheit eingegriffen, um die Zahl der Verkehrsopfer zu verringern: Die Bußgelder für das Nicht-Anschnallen und andere »Kavaliersdelikte« wurden vor wenigen Jahren drastisch erhöht. Seither wird nicht nur jeder Fahrer ohne Gurt, sondern auch jeder nicht angeschnallte Beifahrer gesondert zur Kasse gebeten. Viele Fahrer setzen sich deshalb einfach auf den Gurt, damit es so wirkt »als ob«, um so der Strafe für das Nichtanschnallen zu entkommen. Und in neuen Autos, in denen es ohne Gurt ununterbrochen piept und blinkt? Dafür wurde auch schon etwas ausgetüftelt: Eine Gurtschnalle vom Schrottplatz, einfach reingesteckt, und schon lässt es sich ohne nerviges Gefiepe fahren. Eins zu null für das moderne Bordsystem. Doch halt, das gilt natürlich auch nur für vereinzelte Strategen: Bei vielen Russen hat es sich durchgesetzt, dass ohne Gurt nicht unbedingt cool ist.
Mischa wurde von der russischen Verkehrspolizei gestoppt, der GIBDD. Auf Russisch ГИБДД (sprich: GE-I-BE-DE-DE), also die Gosudarstwennaja inspekzija besopasnost doroschnogo dwischenja. Was sich vermutlich ohnehin nur die wenigsten Ausländer merken können, heißt wörtlich: Staatliche Inspektion für die Sicherheit im Straßenverkehr. Früher hieß diese Behörde GAI, bis heute steht die kyrillische Entsprechung ГАИ auf vielen Straßenschildern. Daher werden die Verkehrspolizisten umgangssprachlich auch GAIschniki genannt. Mit dem englischen Wort gay für Homosexuelle hat das jedoch nichts zu tun, Herr Müller! Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, solche Scherze zu machen! Denn gleichgeschlechtliche Liebe ist in der breiten Bevölkerung immer noch ein Tabu-Thema (und es lässt sich nicht behaupten, dass sich die Einstellung verändert hat, je länger die Sowjetunion schon tot ist ... im Gegenteil ... doch das an anderer Stelle). Mit dem Abkürzungswirrwar ist hier jedoch noch nicht Schluss. Denn es ist durchaus auch möglich, dass Sie in Russland auf die DPS (ДПС, ausgeschrieben: Doroschno-patrulnaja sluschba, also die Behörde für Straßenpatrouillen) stoßen. Dies ist wiederum eine Abteilung der GIBDD.
Die russische Verkehrspolizei litt lange unter ihrem schlechten Ruf, an dem sie allerdings nicht ganz unschuldig war. Im Gegenteil: Die Polizisten ließen (oder lassen) es sich oftmals nicht nehmen, kräftig bakschisch zu kassieren. Die Gehälter der Beamten sind immer noch verhältnismäßig niedrig. Doch nicht nur die eigenen Kinder müssen versorgt werden, sondern auch die Vorgesetzten. Dabei gilt ein ungeschriebenes Gesetz: Wsjatki, so der russische Name für Bestechungsgelder, machen etwa die Hälfte der offiziellen Strafe aus. Das war zumindest die ungefähre Richtlinie. In den vergangenen Jahren hat man nämlich einiges getan, um das zu ändern. Wo die Milizionäre in der Regel keinen Spaß verstehen, ist beim Alkohol – da sind und waren die Strafen extrem hoch, sogar Gefängnis droht!
Sie zittern vor Ihrer Moskau-Reise vor der russischen Mafia? Vergessen Sie es. Denn diese rechnet in der Regel nur untereinander ab. Der Verkehr ist wesentlich riskanter: Alljährlich fordern russische Straßen 30.000 Tote, das sind sechs Mal mehr Menschenleben als im gleichen Zeitraum bei Unfällen in Deutschland sterben. Die Zahl der Verkehrstoten in Russland ist in den letzten Jahren dennoch rückläufig, auch wenn es immer mehr Autos auf den Straßen gibt. Ein Grund hierfür sind die ausländischen Fahrzeuge, oft mit Anti-Blockier-System und Airbag ausgestattet, die deutlich sicherer als ihre russischen Mitstreiter sind. Allerdings bleiben kratertiefe Schlaglöcher in den Straßen, vor allem auf dem Land, enorm gefährlich!
Doch was ist in Moskau anders als in anderen europäischen Großstädten? Und warum muss man an Werktagen drei bis vier Stunden Zeit im Stau einkalkulieren? Schuld an der prekären Verkehrslage in der Hauptstadt sind die sowjetischen Städteplaner, die Moskau noch in den späten 1980er-Jahren im besten Fall 600.000 Autos prophezeit hatten. Heute sind jedoch mindestens zehnmal so viele Fahrzeuge in der Metropole unterwegs, da sich immer mehr Menschen ein Auto leisten können. So viele Luxuskarossen wie in Moskau sucht man anderswo vergebens! So viel Stau allerdings auch: Moskau taucht regelmäßig ganz oben auf der Welt-Stau-Statistik auf. 91 Stunden verbringt ein Moskauer pro Jahr in einer Staukolonne, das sind gut ein Viertel seiner Gesamtfahrzeit, so die Zahlen der Inrix-Staustudie.
Abhilfe gegen das Verkehrschaos sollen immer wieder neue Straßenbaupläne schaffen, die allerdings nicht immer die beste Lösung für die Umwelt sind. Nun setzt die Moskauer Stadtregierung auf die Stärkung des Öffentlichen Personennahverkehrs und will die Metro weiter ausbauen – mit recht ambitionierten Zielen.
Die Vehikelflut bringt akuten Mangel an Parkplätzen mit sich: Öffentliche Garagen sind eine Neuerscheinung, der Wagen wird vielmehr abgestellt, wo Platz ist. Jede Fläche, auf die ein Auto passt, ist ein potenzieller Parkplatz! Dazu zählen Bürgersteige, Parks, Hofzufahrten oder Grünstreifen. Beliebt ist auch das Parken in zweiter Reihe, was die endlosen Staus nur noch verschlimmert. Auch das Problem ist der Moskauer Stadtverwaltung bekannt, und so wurde längst schon angekündigt, neue Parkhäuser und Tiefgaragen zu bauen. Die offiziell ausgewiesenen Park- und Stellplätze reichen nicht einmal für ein knappes Drittel der Autos, die auf Moskauer Straßen unterwegs sind. Parken auf dem Gehweg bleibt natürlich nicht ohne Strafe: Hierfür müssen Moskauer Autofahrer einige Rubel hinblättern.
Mit einem Blaulicht auf dem Dach hat man in Moskau freie Fahrt. Wenn man die richtigen Kanäle kennt, gibt es solche »Freifahrtscheine« für mehrere tausend US-Dollar. Ohne Quittung, versteht sich. Auch das Nummernschild gibt Auskunft über den Fahrer: Angehörige von Kreml, Zoll oder Geheimdienst, die man am Kennzeichen