Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
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Wenn Sie Ihr Gesprächspartner (den Sie natürlich schon kennen) am Ärmel anfasst oder umarmt, dann betrachten Sie das als echten Sympathiebeweis: Ihr Gegenüber mag Sie und will Ihnen keines-falls »auf die Pelle rücken«, zumindest nicht bewusst. Er hat nur eine andere Auffassung von Körperdistanz als Sie, also eine größere »persönliche Zone«, die sich mit Ihrer »Intimzone« überlappt.
Und wenn jemand in der Warteschlange, etwa am Bankautomaten, Einsicht in Ihre Kontobewegungen hat, da er so dicht hinter Ihnen steht – nehmen Sie es gelassen! Umgekehrt erfahren Sie ja auch von seiner finanziellen Misere. Wieder zurück in Westeuropa sollten Sie dieses Spiel allerdings nicht bei Ihrer Hausbank versuchen: Anderswo wirkt das »Atme-deinem-Vordermann-in-den-Nacken«-Spiel und Ignorieren der Wartelinie doch recht befremdlich.
2
HERR MÜLLER IM SOG DER HANDYMANIE
WIESO KANINCHEN TELEFONIEREN KÖNNEN
»Allo?«
Herr Müller reißt die Augen auf.
»Allo-o-o-o?«
Ein Weckruf? Nein! Ein russisches Allo entspricht dem deutschen »Hallo« bei der privaten Begrüßung am Telefon (bei Unternehmen hat sich die Nennung von Namen oder Firmennamen in den vergangenen Jahren zunehmend durchgesetzt). Verschlafen blinzelt der Karlsruher Geschäftsmann um sich. Sein Blick fällt auf den Sicherheitsgurt, der seine Hüften umspannt. Ach richtig, er war im Flugzeug nach Moskau eingeschlafen. Ein lautes Prassen lässt ihn aufschrecken, als würden sich gerade alle Hagelwolken am Himmel kollektiv über dem Flugzeug ergießen. Klatschende Hände neben ihm, vor ihm, hinter ihm! Autsch! Ein Ellenbogen bohrt sich unsanft in seine Rippen. Sein Blick folgt dem Arm, der dazu gehört und seine linke Armlehne komplett in Beschlag genommen hat. Ein weißes Kaninchen? Herr Müller reibt sich die Augen. Vielleicht hätte er doch nicht so lange schlafen sollen, nun kommt er ja gar nicht mehr zu sich.
Das weiße Kaninchen klatscht immer noch. Dabei wippt der pelzige Ellenbogen aufgeregt auf und ab, als wolle er die Lebensdauer von Herrn Müllers Sakko mutwillig verkürzen. Der Geschäftsmann verzieht das Gesicht. Ein Redeschwall ergießt sich über ihn, das Kaninchen klingt aufgeregt.
Gerade will er seiner neuen Bekanntschaft seinen russischen Paradesatz präsentieren: »Ja Vas ne ponimaju.« (»Ich verstehe Sie nicht«; bitte nicht verwechseln: Das Wörtchen ja bedeutet im Russischen »ich«, die Zustimmung, also das deutsche »Ja«, heißt unterdessen da). Als er jedoch ein Smartphone entdeckt, das unter der voluminös aufgetürmten Haarpracht hervorblitzt, hält er inne. Aha, das Kaninchen unterhält sich ja überhaupt nicht mit ihm! Glück gehabt, dann würde er mit seinen marginalen Russischkenntnissen wenigstens nicht ins Stottern kommen ...
Aber: Was hat das Kaninchen eigentlich so dringend zu bereden, während das Flugzeug noch mit voller Kraft voraus die Landebahn entlangbrettert? Herr Müller ist verunsichert.
»Allo?« Diesmal ertönt der gleiche Ruf aus der hinteren Sitzreihe. Er dreht sich um. Und da, noch einmal vorne, ein lang gezogenes »Allo-o-o-o?« Ist das ein Ankunftsritual der Russen, wenn sie in ihrer Heimat landen? So wie der Papst erst mal den Boden zur Begrüßung küsst?
Nun schrillt es hinter ihm. Herr Müller ist verwirrt. Was war das nur für ein Land, in dem alle Passagiere bei der Landung kollektiv »Allo!« brüllen? Und dazu auch noch Beifall klatschen! Und überhaupt, seit wann können weiße Kaninchen eigentlich telefonieren?
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Herr Müller hat, noch vor seiner Ankunft in Moskau, einen beliebten russischen Volkssport kennenlernt: die Handymanie. Wozu hat man denn ein Mobiltelefon oder neuerdings Smartphone, wenn man es nicht nutzt? So wird in Russland gerne immer und überall telefoniert, sei es im Kino, in der Sauna oder während einer Geschäftsbesprechung – wo immer es ein Empfangssignal gibt. Und einzig darauf kommt es an! Und was ohnehin alle Mitreisenden im Flugzeug längst schon wissen, erfährt so auch der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Und zwar in Echtzeit, nur gefühlte Nano-Sekunden nach dem Aufsetzen der Räder: »Wir sind soeben gelandet!«
Doch wem müssen sich die russischen Passagiere überhaupt so eilig mitteilen?
Den Angehörigen! Denn die Familienbande sind längst nicht so lose wie in Westeuropa. Meist leben mehrere Generationen unter einem Dach, sei es auf dem Land oder in einer engen Stadtwohnung. Dazu sind sie in der Regel auch gezwungen, denn Wohnraum ist knapp und die eigenen Mittel meist ebenso. Durch die räumliche Nähe bleiben sich die Generationen länger verbunden, auch wenn der eigene Nachwuchs längst schon flügge und ergraut ist. Entsprechend bekommen nicht nur der Partner und die Kinder den eigenen Alltag mit, sondern auch die Eltern, Schwiegereltern oder sonstige Verwandte, die mit unter einem Dach leben – so beispielsweise auch die heile Landung mit dem Flugzeug.
Tun wir den russischen Passagieren aber nicht unrecht. Viele, die etwa auf dem internationalen Moskauer Flughafen Scheremetjewo landen, rufen auch einfach aus pragmatischen Gründen an: Sie haben sich mit Verwandten oder einem Fahrer verabredet, der sie abholen soll. Das Parken auf dem Flughafen ist nicht wirklich günstig, den »fliegenden« Einstieg im Vorbeifahren schafft man jedoch kostenlos, wenn man das Gelände innerhalb einer kurzen Zeit wieder verlässt. Daher bildet sich manchmal außerhalb des abgezäunten Flughafengeländes eine Autoschlange: Das sind in der Regel Abholer, die auf das erlösende Telefonat warten, um die Ankommenden im Vorbeifahren einzusammeln.
Was das weiße Kaninchen betrifft. Selbstverständlich hat dieses weder Pfötchen noch ein Stummelschwänzchen. Vielmehr beginnt Herr Müller schon vor seiner Ankunft in Russland, alle Pelzmäntel mit den Tierarten gleichzusetzen, aus deren Fell sie genäht wurden (siehe auch die Begegnung mit dem Braunbär im Kapitel »Herr Müller geht auf Tuchfühlung«). So schult er, wenn auch unbewusst, sein Auge schon mal für etwas, das die meisten Russen sehr gut beherrschen: Denn während für viele westliche Ausländer Pelz gleich Pelz ist, egal ob Kaninchen, Fuchs oder Zobel, und dessen Tragen ebenso verpönt ist, wie mit einem Bunny-Kostüm in einem Beichtstuhl aufzutauchen, so erkennen die meisten Russen ziemlich genau, aus welchem Fell der Mantel hergestellt wurde. Und können entsprechend auf den sozialen Status des Pelzträgers schließen.
Machen wir uns nichts vor: Kaninchen sind eher in der unteren Preisklasse angesiedelt, also wird Herr Müllers Sitznachbarin vermutlich nicht allzu betucht sein. Das wird der Karlsruher Geschäftsmann später noch in seinem Hotel merken, wenn er die Tierhaare von seinem Sakko wieder entfernen muss, da günstige Pelze manchmal ganz schön haaren können.
Eigentlich ist es ja eher selten, dass Russinnen ihre Pelzmäntel im Flieger anlassen. Die Mützen lassen sie hingegen meist auf, da die Frisur nach Abnehmen der schapka oftmals einem Vogelnest gleicht und gefährliche Greifvögel zur Beutejagd animieren könnte. Eine russische Fluggesellschaft weiß, zumindest laut der deutschen Wirtschaftszeitung »Handelsblatt«, was ihre weiblichen Fluggäste anderswo immer wieder vermissen: ausreichend Platz für Pelzmäntel!
Was können Sie besser machen?
Nein, Sie müssen sich jetzt keinen Pelz