Medizin und Gesellschaft. Andreas Kögel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Medizin und Gesellschaft - Andreas Kögel страница 2
Soweit ist es nicht gekommen, aber ab 1900 etablierte sich die Soziologie als reguläres Fach an den Universitäten, zuerst in Frankreich und Deutschland. Die bekanntesten frühen Soziologen sind Emilé Durkheim (1858–1917) und Max Weber (1864–1920). Die Soziologie gehört zu den Sozialwissenschaften, zusammen mit der Psychologie und den Erziehungswissenschaften. Diese Zuordnung ist nicht einheitlich. Früher wurde nur zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden; die Soziologie galt als Geisteswissenschaft, ebenso wie die frühe Psychologie. Manche Psychologinnen und Psychologen sehen sich heute eher als Naturwissenschaftler. Auch die Zuordnung der Medizin ist nicht völlig klar. Die medizinische Forschung an Universitäten ist eindeutig eine Wissenschaft, die angewandte Medizin als ärztliches Handeln ist aber eher ein wissenschaftlich fundiertes Kunsthandwerk. Manchmal werden alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, als Humanwissenschaften bezeichnet. In der Soziologie herrscht Uneinigkeit darüber, ob sie selbst zu den Humanwissenschaften gehört.2 Daher ist die Darstellung in folgender Abbildung (
Abb. 1a: Bezugswissenschaften
Während sich die Psychologie auf den einzelnen Menschen konzentriert und die Funktion und Struktur der menschlichen Psyche untersucht, betrachtet die Soziologie die Funktion und Struktur größerer Gruppen von Menschen bis hin zur Menschheit insgesamt als sogenannte Weltgesellschaft.3 Die menschliche Psyche wird durch die Soziologie selbstverständlich nicht ignoriert, die Psychologie ist eine wichtige Bezugswissenschaft der Soziologie.
Bezugswissenschaften
Bezugswissenschaften liefern wichtige Erkenntnisse für eine Wissenschaft, sie sind sozusagen Zuarbeiterinnen für die eigene wissenschaftliche Arbeit.
Zentrale Bezugswissenschaften der Soziologie sind sämtliche Sozialwissenschaften, die Geschichtswissenschaften sowie die Sprach- und Kulturwissenschaften. Hinzu kommen universelle Bezugswissenschaften4, die für fast alle Wissenschaften Erkenntnisse und Verfahren liefern, vor allem Philosophie und Mathematik. Die Soziologie wiederum ist Bezugswissenschaft für alle Disziplinen, die gesellschaftliche Phänomene untersuchen – z. B. Politik-, Erziehungs- und Medienwissenschaften. Im Idealfall gibt es einen breiten gegenseitigen Austausch, und zwei Disziplinen sind sich gegenseitig Bezugswissenschaften.
Bindestrichsoziologien
In der Soziologie gibt es viele sogenannte Bindestrichwissenschaften, die sich jeweils mit bestimmten Teilbereichen oder Teilaspekten der Gesellschaft befassen. Beispiele sind die Wissenssoziologie, Industrie- und Techniksoziologie, Familiensoziologie, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Wirtschaftssoziologie, die Soziologie der Ernährung, die Soziologie der Kindheit und Jugend, die Politische Soziologie oder die hier behandelte Medizinsoziologie.
Hinzu kommen Arbeitsfelder ohne »Soziologie« im Namen: Die Sozialstrukturanalyse, die Sozialisationstheorie und die Methodenlehre der empirischen Sozialforschung. Bis heute hat die Soziologie keine einheitliche Theorie und Methodik, was einen systematischen Überblick schwierig macht. Verschiedene Theorieschulen definieren und betrachten Gesellschaft unterschiedlich und bevorzugen unterschiedliche Methoden zur Gewinnung von Erkenntnissen. Das Verhältnis dieser Theorieschulen zueinander ist mitunter konfliktträchtig, was in Kapitel 2.6 nochmals aufgegriffen wird.
Soziales Handeln
Das Soziale ist in der Soziologie der gesellschaftliche Bezug, der Begriff sozial weicht also von der alltagssprachlichen Verwendung ab. Mit sozialem Handeln meint die Soziologie nicht solidarisches, fürsorgliches Handeln. Soziales Handeln ist jegliches Handeln in gesellschaftlichen Bezügen, unabhängig von dessen moralischer Bewertung – also in der Medizin nicht nur das Behandeln von Kranken, sondern auch deren Ausgrenzung, oder eine wohlwollende medizinische Aufklärung, aber auch Esoterik, die Verbreitung von Gerüchten oder das Schüren von Ängsten, um daraus politisch, ökonomisch oder emotional Profit zu schlagen.
Da auch die Soziologie als Wissenschaft ein Teil der Gesellschaft ist, befindet sie sich am Ende in der paradoxen Situation, dass sie sich auch selbst beobachtet, und es ist eine wichtige soziologische Frage, inwieweit das überhaupt realisierbar ist.
1.2 Die Medizin als Wissenschaft
Die moderne wissenschaftliche Medizin hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet und etabliert; sie befasst sich primär mit dem menschlichen Organismus. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin war stets von Kritik begleitet, alternativmedizinische Strömungen wie die Naturheilkunde oder die Homöopathie bezeichnen sie – abwertend gemeint – als Schulmedizin.5
Biomedizin
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Begriff »Biomedizin« etabliert.6 Die Bezugswissenschaften dieser organisch-funktional orientierten Medizin sind vorrangig die Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik.7
Aber schon im 19. Jahrhundert zeigte sich die Notwendigkeit, auch gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen und die psychische Verfasstheit der Patientinnen und Patienten in das medizinische Handeln mit einzubeziehen. Der Arzt Rudolf Virchow prägte im 19. Jahrhundert den Begriff der Sozialmedizin und betonte, dass bei der Bekämpfung von Krankheiten auch die Lebensbedingungen der Menschen berücksichtigt werden müssen.8
Medizinsoziologie
Die Medizinsoziologie untersucht bzw. beobachtet Medizin als gesellschaftliches Phänomen. Sie befasst sich beschreibend mit dem Aufbau und der Funktion der Gesundheitsversorgung, mit dem Selbstverständnis und der Reichweite medizinischen Handelns und mit geschichtlichen (zeitlich) und regionalen bzw. internationalen Unterschieden (horizontal). Hinzu kommen die Untersuchung und Beschreibung gesellschaftlicher Einflüsse auf Gesundheit bzw. Krankheit und deren Deutung. Und nicht zuletzt die Untersuchung sogenannter sozialer Interaktionen – der Umgang zwischen Ärztinnen, Patienten, Pflegekräften, Medizin-/Gesundheitsfachkräften und anderen involvierten Personen; die Vorstellungen, Wünsche und Ängste der Menschen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, allgemein der Umgang der Gesellschaft mit Krankheit, Sterben und Tod.
Die Medizinsoziologie geht gleitend über in weitere Spezialsoziologien, vor allem die Religionssoziologie, Wissenssoziologie, Organisationssoziologie oder die Sozialstrukturanalyse. Ob Gesundheitssoziologie etwas anderes als Medizinsoziologie ist, wird weiter unten diskutiert. Aus der soziologischen Systemtheorie kommt der Begriff »Soziologie der organisierten Krankenbehandlung«,9