Medizin und Gesellschaft. Andreas Kögel
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1.3.4 Krankheitsmodelle
Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt, sind Krankheit und Gesundheit eng miteinander verschränkt, weshalb Krankheitsmodelle gleichzeitig auch Gesundheitsmodelle sind, zumindest die komplexeren, die die psychosozialen Gegebenheiten mit einbeziehen. Die Erweiterung von Modellen hat notwendigerweise ihre Kehrseiten, weshalb man nicht mechanisch die erweiterten Varianten als besser einstufen sollte. Ein häufiges Problem ist eine zu große Ausweitung der Reichweite des Grundbegriffes, was dann seine Erklärungskraft mindert. Bezieht man zu viele Faktoren in die Definition von Krankheit mit ein, ist am Ende jeder irgendwie krank, und man benötigt dann neue Begriffe für die notwendigen Unterscheidungen im Medizinsystem: Wer zum Arzt muss und wer das bezahlt. Ebenso gibt es typische Wirkungsfelder der Medizin, für die umstritten ist, ob sie Krankheitscharakter haben – Abweichungen vom Normalen, Behinderungen31, chronische Krankheiten, Geburten oder die Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses.
Der Verfasser ist der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Soziologie ist, eine bessere Definition von Krankheit und Gesundheit zu liefern, sondern die Plastizität der Begriffe aufzuzeigen und auch die Plastizität der damit bezeichneten Phänomene, insbesondere in den Rand- oder Grauzonen: Phänomene, die früher als Krankheiten galten wie Homo- und Intersexualität oder neue Krankheitsbilder wie ADHS und Burnout, darüber hinaus das Altern und die daran andockende Anti-Aging-Medizin. Zum Vergleich von Einordnungen kann man an zwei Achsen eine Vier-Felder-Tabelle konstruieren: Früher/heute und hier/woanders. Neben Krankheit gibt es andere, benachbarte Einordnungen: Krankhaft (als moralische Verfehlung), Befindlichkeitsstörung, Abweichung vom Normalen ohne weitere Zuschreibung, Andersartigkeit in einem Feld sozialer Vielfalt.
Abb. 1b: Komponenten individueller Krankheit und Gesundheit
Die Kategorisierung eines Zustands bzw. einer Person als krank ist meistens schlicht ein Funktionserfordernis, um z. B. die Kostenübernahme für Untersuchungen und Behandlungen zu legitimieren. Es kann sinnvoll sein, einen Menschen als krank einzustufen, der sich nach psychosozialen Kriterien in einem Gleichgewichtszustand befindet und subjektiv nicht leidet, wenn dadurch z. B. eine erweiterte Diagnostik bei der Fachärztin ermöglicht wird, mitsamt deren Bezahlung durch einen Kostenträger. Unabhängig vom jeweiligen Krankheitsmodell unterscheidet man drei Bezugssysteme bzw. Bezugsebenen von Krankheit (oder Gesundheit): Das betroffene Subjekt, das Medizinsystem und die Gesellschaft allgemein – genauer: die nähere oder weitere soziale Umwelt (
Abb. 2: Bezugsebenen von Krankheit
Der analytische Wert einer Unterscheidung von drei Bezugssystemen wird offensichtlich, wenn man sich Beispiele mit widersprüchlichen Diagnosen vor Augen hält. Es lassen sich dabei acht (23) Basiskonstellationen unterscheiden, in folgender Tabelle mit der Klassifikation »krank« markiert (
Dieses Schema lässt sich ebenso auf Gesundheit übertragen (
Tab. 1: Krank oder nicht in verschiedenen Bezugssystemen
den einer schweren Beeinträchtigung ist die betroffene Person zunächst niedergeschlagen bis hin zu Suizidwünschen; empirische Studien zeigen, dass sich die meisten Betroffenen aber nach einiger Zeit mit ihrer Situation arrangieren und dann eine akzeptable Lebensqualität bzw. Lebenszufriedenheit berichten.34 Das lässt sich aber nicht beliebig verallgemeinern, wie es manchmal in der Debatte über die Notwendigkeit von Sterbehilfe geschieht. Nicht alle Betroffenen sind irgendwann mit ihrer Situation zufrieden, vor allem, wenn diese objektiv sehr schlecht ist, es keine Aussicht auf Besserung gibt bzw. sich der Zustand absehbar weiter verschlechtert – laufend oder in raschen Schüben wie z. B. bei schweren Verläufen einer Multiplen Sklerose.
Durch eine Ausdifferenzierung der Medizin (Berufshierarchien, verschiedene Fachbereiche oder schlicht die Möglichkeit abweichender Einschätzungen durch andere Ärztinnen und Ärzte) oder der Gesellschaft (Arbeitgeber, Familie, Krankenkasse usw.) lassen sich die Konfliktmöglichkeiten beliebig vervielfachen. Vor allem sagt das Schema zunächst nichts darüber aus, wer Recht hat – gut sichtbar an der Konstellation Subjekt (krank)/Medizin (nicht krank)/Gesellschaft (nicht
Abb. 3: Bezugsebenen von Gesundheit
krank). Haben Medizin und Gesellschaft recht, liegt Hypochondrie vor. Hat das Subjekt recht, wird seine Krankheit nicht korrekt erkannt, ignoriert oder mangelhaft gewürdigt.
Die Soziologie hat im Prinzip zwei Motive, sich mit Krankheitsmodellen auseinanderzusetzen. Ein Motiv ist die Verbesserung der Definition und Erklärung von Krankheit durch verbesserte bzw. erweiterte eigene Modelle. Das andere Motiv ist deskriptiv (beschreibend) und analytisch – zur Beobachtung des Medizinsystems ist es notwendig, die Vorstellungen und Modelle von Krankheit und Gesundheit zu kennen, die dem Handeln von Organisationen und Akteuren zugrunde liegt,