Medizin und Gesellschaft. Andreas Kögel
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Ist Krankheit oder Gesundheit Gegenstand der Medizin? Lange Zeit war es selbstverständlich die Krankheit. Die wachsende Fokussierung auf Gesundheit statt Krankheit seit den 1970er Jahren ist Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen – hier z. B. wachsender Individualisierung. Gesundheitssoziologie hat den Anspruch, über die Behandlung von Krankheit oder Kranken hinaus zu blicken; Medizinsoziologie betrachtet hingegen Gesundheitssoziologie als Teildisziplin mit speziellem Fokus – so auch dieses Buch. Tatsächlich gibt es kein Entweder-Oder von Gesundheit und Krankheit, da keiner der Begriffe ohne sein Gegenstück einen Informationswert hat. In der Öffentlichkeitsarbeit von Politik und Wirtschaft werden positiv klingende Begriffe bevorzugt, was auch andere Bereiche infiziert, die sie sich auf die Sprech- und Denkweisen des modernen Marketing einlassen. Positiv denken, positiv reden und damit dann eben über Gesundheit und nicht über Krankheit, außer man möchte jemandem Angst einjagen. Niklas Luhmann war dagegen der Überzeugung, dass für die Medizin als gesellschaftlichem Subsystem alleine Krankheit instruktiv sei, weil Gesundheit nicht klar bestimmbar sei, sondern eher eine Art Hintergrundrauschen von Krankheit.10 Unterschiedliche Teilbereiche und Disziplinen setzen unterschiedliche Schwerpunkte und es ist vielleicht die beste Strategie, hier flexibel zu bleiben und nicht bestimmte Begriffe vorschnell zu tabuisieren.
Die Medizin umfasst sowohl einen wissenschaftlichen Bereich als auch einen Bereich angewandten professionellen Handelns, in einem gewissen Sinne ist sie damit auch ein Kunsthandwerk (ähnlich den Erziehungswissenschaften). Jede Wissenschaft reflektiert ihren Gegenstand, d. h., sie versucht zu umreißen, womit sie sich befasst, was zu ihrem Gebiet gehört und was nicht. Der Gegenstand wird aber nicht mit Gründung einer Wissenschaft quasi per Beschluss festgelegt, sondern hat sich oft in einem langen (manchmal jahrhundertelangen) Entwicklungsprozess herausgebildet. Solche Entwicklungen können evolutionär erfolgen, sie unterliegen zufälligen Einflüssen und haben kein bestimmtes Ziel; sie sind kontingent11 – es ist gekommen, wie es gekommen ist, es hätte aber auch anders kommen können.
1.3 Der Gegenstand der Medizin
1.3.1 Menschen, Tiere, Organismen
Die Medizin gilt vorrangig als Humanwissenschaft, sie befasst sich mit Menschen;12 ein nachgeordneter Sonderfall ist die Tiermedizin.13 Diese Aufteilung resultiert aus einer alten anthropozentrischen Orientierung – der Mensch stellt sich funktional und moralisch über alle anderen Lebewesen. Entsprechend befasst sich die Medizinsoziologie überwiegend mit der Humanmedizin, medizinisches Handeln reicht aber darüber hinaus. Die Tiermedizin ist organisatorisch und moralisch von der Humanmedizin getrennt, aber diese Abgrenzung ist kulturell bedingt und Überschreitungen der Grenze zwischen Mensch und Tier kamen und kommen selbstverständlich vor. Für das Verhältnis vom Menschen zum Tier gibt es zwei grundlegende Positionen. Erstens eine strikte Trennung, die dem Menschen aus religiösen Gründen14 oder aufgrund bestimmter zugeschriebener Eigenschaften (Bewusstsein, Intelligenz, Zukunftsfähigkeit, Kultur) eine grundsätzliche hervorgehobene Andersartigkeit und einen höheren moralischen Wert zuschreibt. Zweitens einen Gradualismus, der – unter Rückgriff auf die Evolutionstheorie – den Menschen im Stammbaum der Wirbeltiere unter den Primaten verortet und die Gemeinsamkeiten betont.15 Unabhängig von der philosophischen und theologischen Debatte sei darauf hingewiesen, dass eine strikte Trennung von Mensch und Tier nie konsequent durchgehalten wurde. Würde man darauf bestehen, hätten z. B. Tierversuche in der Entwicklung und Überprüfung medizinischer Verfahren (Medikamente, Geräte und Materialien, Operationstechniken) keine Aussagekraft. Im Tierversuch dienen Tiere – überwiegend Mäuse und Ratten, manchmal auch größere Säugetiere wie Katzen, Hunde, Schweine oder Affen – als Modelle für den menschlichen Organismus. Diese Verwendung von Tieren als Modell setzt eine grundsätzliche Ähnlichkeit voraus, um die Forschungsergebnisse auf den Menschen übertragen zu können.
Die scharfe Trennlinie wurde und wird vor allem religiös begründet, losgelöst davon mit höherwertigen Eigenschaften der menschlichen Spezies wie Intelligenz oder einem komplexeren Lebensinteresse (hervorgehoben wird u. a. die Zukunftsorientierung).16 Leben und Lebensqualität von Menschen gelten daher als höheres Gut, weshalb zu dessen Erhaltung und Schutz niedere Lebewesen geopfert werden dürfen, quasi in Erweiterung des Fressen-und-Gefressen-Werdens. Diese moralische Grenze wurde und wird immer wieder auch in die menschliche Gesellschaft hinein verschoben. Gefährliche und moralisch fragwürdige Experimente wurden an gesellschaftlich ausgegrenzten oder niedriger gestellten Menschen vorgenommen wie z. B. Sklaven und Sklavinnen, Häftlingen, anderweitig Exkludierten (Ausgegrenzten) oder Kindern. Auf eine Aufzählung einschlägiger Übergriffe und Grausamkeiten soll hier verzichtet werden, als Beispiel sei an die Überprüfung der Pockenimpfung durch den englischen Arzt Edward Jenner erinnert, der seinen zentralen (und glücklicherweise erfolgreichen) Versuch 1796 mit dem achtjährigen Sohn seines Gärtners durchführte.17
Über die Verzweckung von Tieren für den Menschen hinaus kann der Austausch zwischen Human- und Tiermedizin wiederum den Tieren zugutekommen, zumindest einigen davon. Als Haustiere können sie selbst Patientenstatus erlangen – im Zuge einer Aufwertung zum Betriebskapital oder als Pet zum Spielgefährten, Freund oder Familienmitglied. Eine neuere Grenzüberschreitung sind Versuche zur Züchtung menschlicher Organe in Tieren und die Kombination von menschlichem und tierischem Erbgut auf zellularer Ebene. Die Mensch-Tier-Abgrenzung wird auch durch die neuere Erkenntnis irritiert, dass der Mensch kein sauber abgegrenzter Organismus ist, sondern als Träger in enger Symbiose mit gewaltigen Mengen an Mikroorganismen lebt, seinem sogenannten Mikrobiom, das wiederum zu einer gesunden Funktion beiträgt.18
1.3.2 Krankheit
Gegenstand der Medizin war zuerst Krankheit, nach Ansicht der soziologischen Systemtheorie hat sich das auch nicht geändert. Es gibt zwei grundlegende Krankheitskonzepte. Das eine – eher moderne – Konzept ist das der Funktionsstörung. Es gibt einen Normalzustand des biologischen Organismus, der bei Bedarf nach bestimmten äußeren Umständen unterschiedlich gewichtet werden kann, und Krankheit ist eine schädliche oder gefährliche Abweichung davon. Das andere Konzept ist das der gestörten Harmonie. Es gibt verschiedene Prinzipien, Kräfte, Energien oder Beziehungen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, und Heilung besteht in der Wiederherstellung der Harmonie (Yin und Yang, vier Säfte, die Beziehung zu Gott oder anderen übernatürlichen Mächten, der Einklang mit der Natur bzw. dem Kosmos). Diese beiden Prinzipien sind sich recht ähnlich und die Unterschiede bestehen eher in den Details der Ausgestaltung. Die Wiederherstellung von Normalität ist anschlussfähiger für die moderne Wissenschaft und Technik, die Harmonie für Religion und Romantik, aber auch das ist nicht zwingend, wie in Kapitel 6.8.2 gezeigt wird (
Vermutlich war die Behandlung von Krankheit und Kranken aber zuerst ein religiöses Problem – im Zuge einer Religionsauffassung, wonach Religion der Versuch ist, mit unverständlichen bzw. unheimlichen Phänomenen umzugehen (aktiv als Einflussnahme oder passiv als Bewältigung/Integration). Die religiöse Deutung und Bearbeitung von Krankheit gibt es bis heute, aber sie ist weit an den Rand gerückt bzw. nur noch für gesellschaftliche Milieus bedeutsam, die eine besondere Religiosität pflegen. Heil und Heilung sind eng verwandt, und