Medizin und Gesellschaft. Andreas Kögel
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Ein Blick in die Medizingeschichte zeigt, dass dies je nach Situation mehr oder weniger hilfreich war; man denke an alte Praktiken wie den Aderlass, oder an die Arzneiverwendung nach heuristischen Grundprinzipien wie dem Analogieprinzip (Walnüsse sind gut fürs Gehirn, rote Beeren sind gut fürs Blut, Nashorn als Potenzmittel) oder – im Gegenteil dazu – dem Simileprinzip, das bis heute in der Homöopathie Verwendung findet (Gleiches wird mit Gleichem behandelt – Fieber mit Wärme, eine allergische Reaktion mit dem Allergen).21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Punkt erreicht, an dem medizinische Behandlung insgesamt mehr nutzte als schadete und man mit grundsätzlich positiver Erwartung bzw. Aussicht zum Arzt gehen konnte. Talcott Parsons betont, dass erst im 19. Jahrhundert der wissenschaftliche Stand der griechisch-römischen Antike wieder erreicht war.22 Gleichwohl bleibt auch heutzutage im Einzelfall ein Unsicherheitsbereich – es gibt immer noch unheilbare Krankheiten und unangemessene, überflüssige oder schädliche Behandlungen, aber die Grenze hat sich weit in den positiven Bereich verschoben.
Für eine soziologische Betrachtung ist der Bereich der Pathologien und Dysfunktionen von größerem Interesse. Es soll hier aber nicht vorrangig darum gehen, die moderne Medizin schlecht zu reden, sondern sie als soziokulturelles Phänomen im Rahmen der Gesamtgesellschaft zu analysieren. Konflikte und Probleme haben schlichtweg einen höheren Informationsgehalt – wenn alles läuft und nichts klemmt, gibt es wenig zu bereden. Krankheit liegt vor, wenn Körper und Psyche des Menschen nicht so funktionieren, wie sie sollen, was eine Vorstellung vom Sollzustand erfordert. Dies kann ein Ideal sein oder schlicht die Normalität, der Mittelwert, das Gewöhnliche. Viele Kontroversen um Krankheit und Krankheitsmodelle drehen sich um abweichende Normalvorstellungen, Missverständnisse oder auch absichtliche Unterstellungen. Erschwerend kommt eine mehrdeutige Verwendung des Attributs krank in der Alltagssprache hinzu. Neben dem nüchtern-medizinischen Aspekt transportiert es noch eine ästhetische und moralische Missbilligung bis hin zur totalen Ablehnung. Krank kann auch – ohne medizinischen Bezug – abartig, widerwärtig und verdorben bedeuten, und der Umgang mit Krankheit hängt stark vom Ausmaß dieser moralischen Beigabe ab: Ob das Kranke (als vom Menschen Abgrenzbares) bzw. der Kranke geheilt werden soll oder ob es bzw. er als gefährlich, infektiös, minderwertig und schädlich separiert oder gar ausgemerzt werden soll. Die Unterscheidung von Organismus und Krankheitserreger durch die Entdeckung der Mikroben brachte auch eine moralische Entlastung der Kranken mit sich. Heutige Bestrebungen nach Ganzheitlichkeit muten zunächst harmonisch, fast schon romantisch an. Sie sollten aber mit Vorsicht behandelt werden, denn man kann sich mit der ganzheitlichen Heilung auch die ganzheitliche Krankheit einfangen – eine weniger sympathische Vorstellung. Das viel kritisierte klassische mechanistische Modell von Krankheit als einem Defekt der Körpermaschine, der repariert werden muss und kann, hat seine Vorzüge und reicht für viele Anwendungsfälle aus.
1.3.3 Gesundheit
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die vorherrschende biomedizinische Leitvorstellung von Krankheit und Medizin verstärkt in die Kritik. Einen wichtigen Impuls setzte die 1948 gegründete Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen (WHO) mit einer innovativen Definition von Gesundheit: »Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.«23
Diese Definition wurde und wird lebhaft diskutiert, die Beurteilung reicht von Lob als mutigem Neuanfang bis zur Ablehnung als überzogen und realitätsfern.24
Anschlussfähigkeit
Die neuere soziologische Systemtheorie nennt das Anschlussfähigkeit: Eine Aussage erregt Aufmerksamkeit und gibt Anlass für Zustimmung, Ablehnung und Diskussionen – sie ermöglicht bzw. provoziert Anschlusskommunikation und hält damit die Kommunikation am Laufen.25
Jedenfalls ist Gesundheit grundsätzlich positiv besetzt und wird daher in vielen Bereichen gegenüber Krankheit bevorzugt. Ein bedeutender Ansatzpunkt hierfür ist das Konzept der Salutogenese von Antonovsky, das die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit ins Zentrum rückt und in Kapitel 1.3.4 näher beschrieben wird (
Die Definition der WHO impliziert (beinhaltet) ein zweistufiges Gesundheitskonzept: Eine Basisgesundheit als Abwesenheit von Krankheit dergestalt, dass keine akuten Krankheitserscheinungen bzw. -symptome vorliegen; und darüber hinaus eine Lebensqualität, die für diesen Zustand eine gewisse zeitliche Stabilität erwarten lässt. Aus soziologischer Sicht ist Gesundheit eine Zuschreibung, die durch ein beobachtendes System (eine andere Person, die Medizin, die soziale Umgebung) vorgenommen wird. Sie muss nicht binär sein (krank oder gesund) sondern kann auf einem Kontinuum erfolgen. Bei mehreren beobachtenden Systemen kann es zu abweichenden Einschätzungen kommen, was im nächsten Abschnitt anhand der komplementären Zuschreibung von Krankheit veranschaulicht wird (
Gesundheitswissenschaften
In den letzten Jahren hat sich Gesundheit als gesellschaftlicher Leitwert etabliert. Sie gilt als wichtiges Lebensziel – und etliche Professionen, die sich mit dem Medizinsystem befassen, firmieren nun unter dem Gesundheitsbegriff und werden als Gesundheitswissenschaften zusammengefasst. Auch die wichtigsten neueren soziologischen Lehrbücher laufen als »Gesundheitssoziologie«27 oder wenigstens »Gesundheits- und Medizinsoziologie« (Hurrelmann).28 Tatsächlich gibt es keinen substanziellen Unterschied zwischen Gesundheits- oder Medizinsoziologie, allenfalls sind einige Interessenschwerpunkte unterschiedlich gelagert.
Thema des vorliegenden Buches ist bewusst die Medizinsoziologie, weil das Gesundheitswesen und der gesellschaftliche Umgang mit medizinischen Themen im Vordergrund stehen und nicht der Versuch, neue oder bessere Krankheitsmodelle vorzustellen oder Anregungen zu geben, wie man die Menschen gesünder machen könnte.