Medizin und Gesellschaft. Andreas Kögel
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Biomedizinisches Krankheitsmodell
Das basale Krankheitsmodell der wissenschaftlichen Medizin geht von einem Normalzustand des Organismus aus. Krankheit ist eine Störung dieses Zustands, Gesundheit entsprechend die Abwesenheit von Störungen. In den meisten Büchern zur Medizin- oder Gesundheitssoziologie wird dieses Modell einerseits kritisiert und als Ausgangspunkt für psychosoziale Erweiterungen verwendet, von denen einige weiter unten vorgestellt werden. Andererseits ist es für viele konkrete Anwendungsfälle ausreichend bzw. instruktiv (man kann etwas damit anfangen, positiv oder negativ).
Modell
Modelle sind immer Vereinfachungen der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist beliebig komplex und kann nicht direkt oder gar vollständig erfasst werden. Ein Modell konzentriert sich je nach Bedarf auf bestimmte Einzelaspekte und lässt andere weg. Der Verzicht auf Komplexität ermöglicht einen besseren Überblick, es kommt Information zum Vorschein, die zuvor durch die Menge anderer Informationen verdeckt war. Ein nichtmedizinisches Beispiel ist der Vergleich einer Stadt mit verschiedenen Arten von Stadtplänen, z. B. einem Straßenplan oder einem Netzplan des öffentlichen Nahverkehrs. Jeder Plan ist unter bestimmten Gesichtspunkten zweckmäßig oder nicht, es gibt aber kein Globalkriterium, um gute von schlechten Plänen zu unterscheiden. Eine Kritzelei auf einem Bierdeckel kann manchmal genügen. Ein Modell kann niemals genau zutreffen, aber es kann falsch sein. Meistens ist es mehr oder weniger zweckmäßig.
Abb. 4: Biomedizinisches Krankheitsmodell
Das biomedizinische Krankheitsmodell (
Eine typische Symptomkombination, für die (noch) kein Krankheitsmechanismus erkannt ist, wird als Syndrom bezeichnet. Es kann vorkommen, dass einem Syndrom verschiedene Krankheiten zugrunde liegen, die sich oberflächlich ähneln. Diese werden getrennt, sobald die Krankheitsmechanismen unterschieden werden können.
Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell bezieht sich u. a. auf die psychologischen Stresstheorien von Selye, Lazarus oder Jerusalem, die ab den 1960er Jahren entwickelt wurden.37 Das biomedizinische Krankheitsmodell wird erweitert, um zu erklären, weshalb manche Menschen unter ähnlichen äußeren Umständen krank werden, andere aber nicht. Vulnerabilität heißt übersetzt Verletzlichkeit, und zwar in Form einer individuell unterschiedlichen Anfälligkeit gegenüber Stress und Stressursachen (Stressoren). Vulnerabilität kann genetisch, organisch, psychologisch oder sozial verankert sein. Ein Mensch mit höherer Vulnerabilität hat ein größeres Risiko, infolge von Stress krank zu werden. Es geht dabei um Wahrscheinlichkeitswerte, die sich auf Populationen38 beziehen; für das einzelne Subjekt kann keine sichere Voraussage gemacht werden. Beispiele für Vulnerabilität wären
• ein genetischer Defekt, der die Entstehung bestimmter Krebserkrankungen begünstigt
• eine psychosozial nachteilige Herkunftsfamilie (z. B. Elternteile, die jähzornig, alkoholabhängig oder abweisend sind)
• eine Phase unzureichender Ernährung während eines Krieges oder einer Wirtschaftskrise
• allgemein schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Stress ist für das Modell sehr allgemein gefasst – im Prinzip jeder äußere Einfluss, der den Organismus oder die Psyche belastet. Im Alltagsverständnis denkt man bei Stress meist an schädliche Umweltreize wie Lärm oder Schadstoffe oder an soziale Konflikte. Stressoren können aber auch Mikroben sein, die den Organismus attackieren. In manchen Stresstheorien wird zwischen positivem und negativem Stress unterschieden, in anderen wird der Stressreiz vom Subjekt durch Attribution (Zuschreibung einer Bewertung) positiv oder negativ interpretiert. Mehrheitlich geht man heute davon aus, dass länger andauernder Stress grundsätzlich schädliche Folgen nach sich zieht.
Abb. 5: Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Die Doppelpfeile in der Darstellung (
Salutogenese
Das Konzept der Salutogenese wurde erstmals 1979 von Aaron Antonovsky vorgestellt.39 Salutogenese ist dabei als Gegenbegriff zur Pathogenese gedacht – anstelle der Entstehung von Krankheit soll untersucht werden, was die Bedingungen der Aufrechterhaltung bzw. Reproduktion von Gesundheit sind. Hier wird also die heute populäre Fokussierung auf Gesundheit eingeführt, wobei Antonovsky Gesundheit und Krankheit als Kontinuum auffasst, dessen beiden Endpunkte Ideal- bzw. Extremzustände sind.40 Zentral ist das Konstrukt eines Kohä renzbewusstseins bzw. Kohärenzgefühls (im Original: Sense of Coherence, kurz SoC), das den Umgang mit krankmachenden Einflüssen bzw. Stressoren reguliert. Antonovsky definiert den SoC als eine Art übergreifendes Vertrauen in eine geordnete und vorhersagbare Umwelt, das Gefühl, dass die Welt geordnet ist und die Dinge in einem vernünftig erwartbaren Rahmen dazu tendieren, gut