Traumberuf Tänzer. Wibke Hartewig
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In den zwei Jahren gegen Ende und nach seiner Ausbildung nimmt er an jeweils zehn Auditions an Stadttheatern teil – eine normale Anzahl, wie er schätzt. »In der ersten Audition-Runde hat man zwar eine Ahnung, weiß aber noch gar nicht, was stilistisch zu einem passt, man kennt ja die ganze Szene noch nicht. Da fährt man natürlich schon ein bisschen wahllos an alle möglichen Orte. Und das ist auch gut so, denn man muss erst mal eine Audition-Praxis entwickeln.«
Navarros erster Vertrag, den er im Jahr nach Studienende erhält, führt ihn als Praktikant an das Opernhaus einer größeren deutschen Stadt. Nach einem Jahr wechselt er zu einem schwedischen Ballettensemble, nach einem weiteren zurück nach Deutschland zur Kompanie eines Staatstheaters, wo er drei Jahre lang bleibt – überall als Gruppentänzer, zum Teil mit Soloverpflichtung. Zu diesem Zeitpunkt ist ihm klar, dass er entweder mehr zum Tanzen kommen oder aber an ein größeres Haus mit entsprechend breiterem Repertoire gehen will. Es wird Letzteres: ein dreijähriges Engagement als Gruppentänzer bei einer großen Ballettkompanie in Schweden.
In dem Ensemble mit seinen 73 Tänzerinnen und Tänzern bestätigt sich für Adrian Navarro eine Erfahrung, die er bereits bei seinen vorigen Jobs gemacht hat: Je klassischer die Kompanie, desto mehr muss man in erster Linie funktionieren. Der einzelne Tänzer ist ein Rad in der riesigen Maschinerie, eingebettet in faire Verträge und Gehälter, muss dafür aber eine große Anzahl an Vorstellungen ableisten und ständig auf Abruf bereit sein, bei Ausfällen kurzfristig einzuspringen; jederzeit werden Höchstleistungen erwartet. Im Gegenzug bekommt er Gelegenheit, Stücke der choreographischen Crème de la Crème zu tanzen und sie zum Teil mit den Choreographen persönlich einzustudieren – von Ashton, MacMillan und Cullberg hin zu Zeitgenossen wie Ek, Duato, Maillot, Spuck und Rushton.
Die Kompanie funktioniert als eigener Kosmos, der viele Möglichkeiten bietet, aber auch eng werden kann. »In großen klassischen Kompanien hat man jeden Tag mit den gleichen Leuten zu tun, bei jedem Training, und wenn man Pech hat, auch immer mit dem gleichen Ballettmeister – da stauen sich dann Sachen an. Es kann aber auch passieren, dass man einzelne Kollegen lange nicht sieht, weil das Training parallel in vier Sälen stattfindet und sie woanders trainieren und nicht in den gleichen Stücken besetzt sind.«
Die langen, intensiven Arbeitszeiten auch abends und am Wochenende lassen kaum Kraft und Zeit für ein Privatleben oder Aktivitäten außerhalb der Kompanie. »Man muss wirklich alles aus den Festengagements ziehen, man hat keine Energie mehr, sich noch kreativen Input von anderswo her zu holen.« Navarro nutzt die kompanieinternen Gelegenheiten zum Choreographieren, ein Learning-by-doing-Prozess. Er entwirft ein Stück für sieben Tänzer für einen Ballettabend von Nachwuchschoreographen, im Jahr darauf ein Quintett, dann ein Duett. Die Managerin der Marketingabteilung, mit der er sich gut versteht, vermittelt ihm daraufhin verschiedene Choreographie-Jobs für Modeschauen, was ihm nicht nur zusätzliches Geld, sondern auch Kontakte in die Szene außerhalb der Oper bringt.
Ein Schlüsselerlebnis als Tänzer ist die Zusammenarbeit mit dem Choreographen Mats Ek, der in Navarros letzter Spielzeit ein kurzes Solo für ihn kreiert. Er ist der einzige Gruppentänzer in der Erstbesetzung. Durch diese Arbeit merkt er, dass noch viel mehr Potenzial in ihm steckt, als er in seinem momentanen Engagement ausschöpfen kann. Bei den Proben mit Ek wird ihm aber auch wieder deutlich bewusst, wie sehr seine Energie durch Konkurrenzkämpfe und Intrigen innerhalb der Kompanie vom Tanzen selbst abgezogen wird. »Ich hatte das Gefühl, ständig mit ausgefahrenen Ellenbogen tanzen zu müssen. Als Mats Ek mit mir probte, standen mir plötzlich einige Kollegen in dem riesigen Saal ständig im Weg. Ich dachte mir: ›Hey, ihr sollt das mitlernen, aber mich nicht blockieren! Ich möchte einfach nur meine Arbeit machen, nichts anderes!‹«
Adrian Navarros Entschluss, nach drei Jahren aus Schweden wegzugehen, hat eine Reihe von Gründen. »Bei den Verhandlungen über meinen Folgevertrag wurde aus dem Festvertrag, der vorher im Gespräch war, plötzlich noch mal ein Jahresvertrag. Daraus konnte ich schließen, dass mein Chef mich rollenmäßig nicht pushen wollte. Er brauchte mich als Arbeitskraft, um einen Platz im Corps zu füllen, und dann würde ich vielleicht einmal im Jahr etwas Interessantes zu tanzen bekommen. Außerdem hatte ich schon berufsbegleitend Kulturmanagement studiert, an einer Fernuniversität in Deutschland, und mir fehlte nur noch die Diplomarbeit. Es war klar, dass es wesentlich einfacher wäre, die in Deutschland zu schreiben, wegen der Sprache und dem Thema. Und dazu kam noch, dass ich Schmerzen hatte.«
Berlin erscheint dem nun 29-jährigen Navarro als geeignetster Ort für zukünftigen kreativen Input; hier arbeitet er zunächst für einen Hungerlohn bei einer Veranstaltungsagentur und schreibt seine Diplomarbeit über Institutionen der freien Tanzszene fertig. Bald merkt er, dass es wohl am einfachsten wäre, nebenbei als Tänzer oder Tanzlehrer Geld zu verdienen. »Ich hatte seit Schweden nur noch Yoga gemacht, als eine Art von Abtrainieren, ganz bewusst kein Tanztraining. Und habe gemerkt, dass mir das Tanzen fehlt.« Also fängt er wieder an, zuerst mit viel zeitgenössischem Training und Improvisation, dann auch mit klassischem Ballett. »Es war unsäglich schwer, wieder in Form zu kommen.« Eine gute Freundin hilft ihm, in ein kollektiv organisiertes Profitraining an einem Berliner Opernhaus einzusteigen, das die Teilnehmer abwechselnd anleiten.
Noch während seiner Diplomarbeit beginnt er, selber Balletttraining zu geben, und merkt, wie viel Spaß ihm das macht. Mit dem Unterrichten verdient Navarro jetzt, gegen Ende seines zweiten Berliner Jahres, einen guten Teil seines Lebensunterhaltes. Dazu kommen Jobs als Filmkomparse, bei Agenturen und auf Messen – und eine steigende Anzahl von Engagements als Tänzer. Neben unbezahlten Projekten, bei denen er aus purem Interesse mitmacht oder um Kontakte zu knüpfen, mehren sich auch die bezahlten Produktionen. So reist er etwa immer wieder ins Ausland, um in professionellen Barockaufführungen mitzuwirken.
Adrian Navarro sieht sich als klassisch ausgebildeter Tänzer, der verschiedene Stile tanzen kann, egal ob klassisch oder zeitgenössisch. Auch, wenn er selber mittlerweile grenzüberschreitend tätig ist, hat er den Eindruck, dass die Kluft zwischen den Tanzbereichen nach wie vor besteht und sich die Vorurteile auf beiden Seiten verfestigt haben. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn er aufgrund seines ›klassischen‹ Lebenslaufes gar nicht erst zu Auditions für zeitgenössische Produktionen eingeladen wird.
Zurück ans Stadttheater zu gehen ist für ihn vorläufig keine Option. Zwar könnte er dort wahrscheinlich noch vier bis fünf Jahre tanzen, doch müsste er nach seinen Verletzungen erst eine volle Rehabilitation angehen, bevor er die körperliche Belastung wieder stemmen könnte. »Am Stadttheater wird man verheizt, man muss sein Soll erfüllen. In der freien Szene kann man es selber etwas besser steuern, wie viel und auch was man tanzen möchte.« Außerdem ist er momentan froh, in anderen Strukturen arbeiten zu können als denen der großen Kompanien: »Es ist für mich angenehm zu sehen, dass ich in freien Projekten viel besser funktioniere und plötzlich viel besser tanze, weil ich einfach weiß, dass das jetzt auf sechs bis acht Wochen begrenzt ist. Man arrangiert sich miteinander, man kann meistens eine ganz gute Stimmung im Rahmen eines Projekts aufbauen und eine gemeinsame Ebene finden. Das ist dann alles sehr angenehm, aber danach reicht es auch wieder.«
Eines seiner aktuellen Projekte ist eine Band mit Tanz-Act, die er mit befreundeten Musikern und Tänzern ins Leben gerufen hat. Ihr »Intellektuellen-Pop«, der dazu arrangierte Tanz und die Inszenierung bieten bewusst eine Alternative zum klassischen Background-Showact im Hip-Hop-Style – ein eigenes Genre. Navarro tanzt und choreographiert hier nicht nur, er singt auch, macht Musik, arbeitet insgesamt performativer. Eine Herzensangelegenheit, in die viel unbezahlte Arbeit geflossen ist, bevor die Gruppe nun in alternativen Clubs, auf Feiern oder Festivals auftritt.
Für seine Zukunft träumt Navarro von einer eigenen Kompanie, mit der er eine ästhetische Lücke füllen möchte, indem er sein Wissen über den klassischen Tanz einbringt, sich aber gleichzeitig neuen Entwicklungen öffnet. Sein Studium könnte ihm dabei helfen, dass sich auch die