Die großen Reden der Weltgeschichte. Martin Kaufhold
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(IM JAHR 399 V. CHR.)
EINFÜHRUNG
Der Auftritt des Sokrates vor dem Gericht in Athen gehört zu den großen Momenten der europäischen Geistesgeschichte. Ein alter Mann verteidigt sein Leben, verteidigt das, was ihn über Jahrzehnte angetrieben hat, und angesichts der Verurteilung und des Todesurteils schließt er mit einer gelassenen Meditation über sein baldiges Sterben. Schauplatz der Handlung war der große Gerichtshof der Fünfhundert, durch das Los ausgewählte Richter aus dem größeren Kreis der gerichtsfähigen Bürger von Athen. Sie mussten die Anklage gegen Sokrates prüfen und ein Urteil fällen. Das Urteil fiel schließlich knapp aus, 280 zu 221 Stimmen, da die einfache Mehrheit für eine Entscheidung ausreichte, war das Gericht so zusammengesetzt, dass keine Stimmengleichheit entstehen konnte (501 Richter). Die Richter waren Bürger Athens, keine Berufsrichter, also konnte Sokrates seine Verteidigung in der einfachen und allgemeinverständlichen Weise vortragen, die er während all der Jahre seiner „Nachforschungen“ auf dem Markt von Athen gesprochen hatte, als er die Bürger in Gespräche über ihr Tun verwickelte und sie dazu anzustiften suchte, ihre Handlungen zu hinterfragen. Nicht jedem hatte das gefallen, und die drei Ankläger sahen in Sokrates einen Unruhestifter, der die Jugend verführe und neue Gottheiten in Athen verehre, die alten Gottheiten der Stadt aber missachte.
Die Anklage wurde von drei Männern vorgetragen, dem jüngeren Dichter Meletos, dem reichen Anytos, einem Gerber und mächtigem Mann, und von Lykon, einem Redner, über den man ansonsten kaum etwas weiß. Wir kennen die Anklagepunkte nur aus der Verteidigung des Sokrates, der seine Ankläger ausführlich zitiert, um ihnen kräftig zu entgegnen. Dabei legt er Wert auf Authentizität. Er verzichtet darauf, einen geübten Verteidiger für sich sprechen zu lassen, wie es ihm seine reichen Schüler geraten hatten, die ihm ihre Unterstützung anboten. Sokrates trat vor seine Richter in der Weise, in der man ihn in Athen kannte: nachdenklich, neugierig, hintersinnig, mit feiner Ironie. Zumindest lässt ihn die Apologie des Platon, die uns diesen Auftritt lebensvoll überliefert, so erscheinen. Ein solcher Auftritt war nicht ohne Risiko. Es konnte klüger sein, die Stimmung im Gericht, die ja in gewisser Weise ein Abbild der Stimmung in der Stadt war, durch einen Fachmann für den Angeklagten einzunehmen. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Hintersinnigkeit des alten Philosophen, die seine Ankläger so provoziert hatte, dass sie seinen Tod forderten, auch die Gerichtsversammlung überfordern würde. Sokrates war sich des Risikos bewusst: Jetzt zum erstenmal trete ich vor Gericht, da ich über siebzig Jahre alt bin; tatsächlich bin ich nicht vertraut mit der hier üblichen Art zu reden. Als aktiver Bürger Athens wird er den Verlauf mancher Gerichtsverhandlung verfolgt haben, und so wusste er, worauf er sich einließ. Dass er in einer solchen Situation auf seinen eigenen Stil bestand, weil er sich selber nicht untreu werden wollte, zeigt seine Souveränität in dieser bedrohlichen Situation. Mitunter erscheint es so, als sei ihm gar nicht klar, wie sehr seine Äußerungen die Richter provozieren könnten. Aber das wäre ein Irrtum. Tatsächlich war er durch das drohende Urteil weitgehend unbeeindruckt. Er hatte keine Angst vor dem Todesurteil, weil der Tod ihm nicht beunruhigend erschien. Das gibt seinem Auftritt die persönliche und historische Größe, die auch fast zweieinhalb Jahrtausende später noch nachwirkt. „Das Schicksal des Sokrates ist eines der wesentlichen Themen der abendländischen Geistesgeschichte“. So beginnt Romano Guardini sein Werk über den Tod des Sokrates, das nach seinem Erscheinen in den 1950er Jahren große Auflagenzahlen erreichte.
Der Auftritt des Sokrates vor den Richtern Athens war ein Auftritt in einer historischen Umbruchsituation. Verschiedene bedeutende Reden, die in diesem kleinen Band wiedergegeben werden, sind in solchen Situationen entstanden. Die öffentliche Stimmung wandelte sich und einzelne Menschen hatten den Mut, für ihre Prinzipien einzutreten. Dabei beriefen sie sich auf grundsätzliche Werte, die ihr Leben trugen. Es ist diese grundsätzliche Herausforderung, die ihren Reden dauerhaften Wert verleit. Zumindest solange diese Werte noch immer eine soziale Bindekraft haben.
Sokrates war über siebzig Jahre alt, als seine Mitbürger ihn anklagten. Sein Auftritt war vielen Athenern wohlvertraut. Er war durchaus nicht bei allen beliebt, Aristophanes hat ihn scharf karrikiert, aber als eine Gefahr war er bislang nicht erschienen. Er hatte die Institutionen und Gesetze Athens respektiert und unterstützt, darauf legte er großen Wert, und er hatte mit dem Heer Athens in den Kriegen mit den Persern und den Spartanern gekämpft. Er war kein sozialer Unruhestifter. Sein Ressort war die moralische Verunsicherung der allzu Selbstgewissen, indem er ihre Gewissheiten hinterfragte. Sokrates hielt keine öffentlichen Reden, wie mancher seiner Zeitgenossen, die als trainierte Redner viel Geld verdienen konnten. Sokrates pflegte den Dialog. Dafür ließ er sich nicht bezahlen. Seine Unterweisungen waren keine Unterrichtsstunden, sie entwickelten sich vielmehr aus alltäglichen Situationen. Seinen Richtern gegenüber verwies Sokrates auf seine Armut als Beweis für seine Integrität. Er war Bildhauer, bevor er sich der Philosophie zuwandte und stammte aus eher einfachen Verhältnissen. Seine Mutter war Hebamme gewesen und er führte ihre Tätigkeit als Bild für seine philosophische Kunst an, mit der er durch seine Nachfragen seinen Gesprächspartnern zur Geburt neuer Gedanken verhalf. Mit der philosophischen Schulung hätte sich durchaus Geld verdienen lassen. Die zeitgenössischen Sophisten, die ihre Schüler in der Dialektik der Argumentation unterwiesen sich, ließen sich ihre Künste mitunter teuer bezahlen. Das war möglich, weil diese Art der Bildung vor allem die Jugend der reichen Familien interessierte. Es war dieses Milieu der freien Künste (artes liberales), d.h. der Künste, die ein freier Mann ausüben konnte, der nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste, aus dem viele der jüngeren Schüler des Sokrates stammten. Daher waren sie auch in der Lage, ihm eine finanzielle Unterstützung im Prozess anzubieten. Sokrates lehnte sie ab. Ebenso, wie er es später ablehnte, sich durch dieses Geld seiner Schüler einen Fluchtweg aus dem Kerker zu erkaufen.
Wenn ein Mann, der nach den Bedingungen seiner Zeit als alt gelten konnte, und der seine hartnäckigen Nachforschungen sicher nicht mehr sehr lange in der gewohnten Weise hätte fortsetzen können, plötzlich als gefährliche Bedrohung erschien, so deutet das auf einen Wandel in der öffentlichen Stimmung Athens hin. In der Tat verträgt sich der Prozess gegen Sokrates kaum mit dem Bild, das Perikles von der Kultur Athens gezeichnet hatte. Perikles hatte eine Generation vor Sokrates gesprochen, um das Jahr 431/30 v. Chr. Der Prozess gegen Sokrates fand im Jahr 399 v. Chr. statt. Sokrates hatte Perikles gekannt, er selber war um 469 v. Chr. geboren worden. Doch in der Zwischenzeit hatte Athen einen langen Krieg geführt, und es hatte ihn verloren. Der Peloponnesische Krieg, dessen Beginn den Anlass zur Rede des Perikles geboten hatte, dauerte fast 30 Jahre und er beendete die Phase des klassischen Athen. 404 vor Christus mussten sich die Athener Sparta geschlagen geben, nachdem eine Reihe verheerender militärischer Fehlschläge eine Fortsetzung unmöglich gemacht hatten. Die Sieger beendeten zunächst die Demokratie und installierten ein kurzlebiges Regime von 30 Tyrannen. Zwar hatte diese Regierung nicht lange Bestand, und die Athener konnten eine Verfassung wieder herstellen, die der alten nahe kam. Aber der alte Geist war dem Krieg zum Opfer gefallen. Es war nicht nur der Geist, sondern die attische Hegemonie, die Machtstellung im Seebund, aufrechterhalten und verteidigt durch die Flotte, im peloponnesischen Krieg untergegangen. Hochkulturen basieren nicht allein auf Ideen, und die Vormacht Athens, die manche kleinere griechische Stadt zur Unterwerfung gezwungen hatte, war die Grundlage jener Kultur gewesen, deren Lob Perikles so eindringlich formuliert hatte. Mancher Verbündete war froh über diese Entwicklung, aber Athen hatte die gelassene Liberalität verloren, die Perikles so geschätzt hatte, und die eher eine Haltung der Stärke als der Verunsicherung war.
Athen hatte unter seiner Niederlage schwer gelitten, und ein neuer Typ des Politikers war in den langen Jahren des Krieges emporgekommen. Männer wie Anytos, einer der Kläger gegen Sokrates. Er war durch sein Gewerbe reich geworden, er gehörte nicht zur Schicht der reichen Aristokraten, die die attische Politik der klassischen Zeit geprägt hatten. Ihm fehlte die Gelassenheit, die der alte Reichtum mit sich brachte. So sah er in Sokrates eine ernste Gefahr. Und er war nicht allein, denn 280 gegen 221 Richter votierten für das Todesurteil gegen den alten Philosophen. Athen hatte sich gewandelt