Der Golem. Gustav Meyrink
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»Das ist sehr merkwürdig«, sagte er nach einer Pause, »war der Fremde vielleicht bartlos, und hatte er schrägstehende Augen?«
»Ich glaube«, antwortete ich, »das heißt, ich – ich – weiß es ganz bestimmt. Kennen Sie ihn denn?«
Der Marionettenspieler schüttelte den Kopf. »Er erinnerte mich nur an den ›Golem‹.«
Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken: »Golem? – Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas über den Golem, Zwakh?«
»Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse?« antwortete Zwakh und zuckte die Achseln. »Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen – den sogenannten Golem – verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe, die Glocken in der Synagoge läuten und allerhand grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden, und nur ein dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe. Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der Altneusynagoge gezeigt wird.«
»Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht haben«, warf Prokop ein, »moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu einer Laterna magica bedient.«
»Jawohl, keine Erklärung ist abgeschmackt genug, daß sie bei den Heutigen nicht Beifall fände«, fuhr Zwakh unbeirrt fort. »Eine Laterna magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hätte durchschauen müssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen läßt, daß aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen treibt und damit zusammenhängt, dessen bin ich sicher. Von Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische Auftauchen des Golem zurückblicken als gerade ich!«
Zwakh hatte plötzlich aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm, wie seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten.
Wie er, den Kopf aufgestützt, dort am Tische saß und beim Scheine der Lampe seine roten, jugendlichen Bäckchen fremdartig von dem weißen Haar abstachen, verglich ich unwillkürlich im Geiste seine Züge mit den maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah! Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde können nicht loskommen voneinander, fühlte ich, und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüberziehen ließ, da schien es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, daß ein Mensch wie er, obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und Schauspieler hätte werden sollen, plötzlich wieder zu dem schäbigen Marionettenkasten zurückkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrmärkte zu ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner Vorväter kümmerliches Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hält er sie jetzt so liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter.
»Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?« forderte Prokop den Alten auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen Wunsches seien.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, meinte der Alte zögernd, »die Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin sagte, er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch könne er ihn nicht schildern. Ungefähr alle dreiunddreißig Jahre wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich trägt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, für das weder eine Erklärung noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehüllt, gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden Augenblick vornüber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plötzlich – unsichtbar wird.
Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heißt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben und sei zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten Hause in der Nähe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hätten ihn um eine Ecke auf sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und – schließlich ganz verschwunden.
Vor sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervorgebracht, besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich – ich war noch ein ganz kleiner Junge –, daß man das Gebäude in der Altschulgasse damals von oben bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse aus einen Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die Nähe des Fensters gelangt, da riß das Seil, und der Unglückliche zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel. Und als später der Versuch nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten über die Lage des Fensters derart auseinander, daß man davon abstand. Ich selber begegnete dem ›Golem‹ das erste Mal in meinem Leben vor ungefähr dreiunddreißig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein muß. Man trägt doch um Gottes willen nicht immerwährend, tagaus, tagein die Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen!
In jenem Augenblick aber, bestimmt – ganz bestimmt, noch ehe ich seiner ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem!