Der Golem. Gustav Meyrink
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Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte er – fast ein Kind noch – eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.
Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein.« Zwakh schwieg und lehnte sich zurück.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn, und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen – eine Katze mit verletzter Gehirnhälfte, im Kreise herumtaumelnd –, trat vor mein Auge.
»Jetzt kommt der Kopf«, hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander mit heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann ihn zu schnitzen.
Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und ich rückte meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster; manchmal verstummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoßen wolle, fragte mich nach einer Weile der Musiker.
Ich aber gab keine Antwort – so vollkommen war mir der Wille, mich zu bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu öffnen, verfiel.
Ich dachte, ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte darüber auf Vrieslanders funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Späne biß – um die Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten und krause Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische, triumphierende Miene.
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte, überlegte ich – dann hielt ich es nicht der Mühe für wert und für belanglos. Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
Plötzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herüber, und Prokop sagte ganz laut: »Er ist eingeschlafen« – so laut, daß es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte. Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von mir sprachen. Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in den Augen.
Es fiel ein Wort wie: »irr sein«, und ich horchte auf die Rede, die in der Runde ging.
»Gebiete wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie berühren«, sagte Josua Prokop vorwurfsvoll. »Als er vorhin von dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt.«
Zwakh nickte: »Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur, und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken.« »War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein«, sagte Vrieslander.
»Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen, vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen.« – Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herüber. – »Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten – wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! ›Wissen Sie, Zwakh‹, sagte er immer, ›wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, möchte ich’s nennen – so wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft.‹« Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt – ein Ahnen, als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhängen – dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugänglicher Gemächer gesperrt – das beängstigende Versagen meines Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen – alles das fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen, und man hatte Hypnose angewandt, hatte das – »Zimmer« verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wiederzugewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich – nie würde ich sie erkennen können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene »Zimmer« zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle »würde der Strick reißen«, wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge – unfaßbare – zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen, wohin der Weg führt, nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann – ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen!
Immer