Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten. Группа авторов
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Eines Tages kaufte ich mir ein kleines gummiertes Fernglas von Nikon. Mit seiner Hilfe gewöhnte ich mir an, die Häuser in den Straßen nicht länger nur bis zur Gürtellinie, also bis zum oberen Ende der Eingangstüren oder der Schaufenster, zu betrachten. Obenrum, das ist wie bei Menschen, wirkt alles anders als beim Blick bis zum Bauchnabel. Das ziellose Herumgehen kam mir auch gelegen, weil ich an einer angeborenen Orientierungslosigkeit leide. Da fehlen irgendwelche Hirnspeicher. Ich finde in einer fremden Stadt nie eine Straße oder eine Kneipe wieder, in der ich tags zuvor war. Am besten, ich muß nichts suchen und gehe einfach der Nase nach. Zum Glück las ich in Paul Austers Winterjournal, wie sich der große New Yorker Autor und Spaziergänger in seiner Heimatstadt trotz der numerierten Straßen schwertut, beim Aussteigen aus der U-Bahn zu begreifen, wo er ist. Wo Süden und wo Norden ist, wo rinks und lechts. „Immer auf dem Holzweg, immer in der falschen Richtung, immer im Kreis herum“, schreibt er. Damit war geklärt, daß die Krankheit des hilflosen Herumirrens in der Stadt jeden befallen kann. Heute mache ich mir Mut mit meiner Losung: Lieber zu weit gehen als gar nicht. Immer wieder reise ich jeweils für eine Woche pflichtschuldig nach New York – auf der Suche nach dem Gefühl von Stadt: in der Nacht mit der U-Bahn raus aus dem Gewühl von Manhattan, runter nach Brooklyn, wo es entspannt sein kann wie auf einem Dorf und aufregend wie nur in New York City, in einer phantastischen Stadt, in der die Meldung umgeht, gewisse Herrschaften wollten die Pferdekutschen in den Straßen nicht etwa aus Tierliebe abschaffen. Die Droschken sollen weg, weil ihre Stallungen im Trendviertel Hell’s Kitchen den Immobilienhaien im Wege stehen.
Der Hinwendung zur Stadt, auch zur eigenen, folgt meist eine gewisse Liebe oder Haßliebe, je nachdem, und die Liebe macht nicht blind, sie schärft den Blick und das Gehör. Der Herumgeher beginnt, sich über die Würdelosigkeit im Umgang mit der Stadt zu ärgern, er spürt den Zorn auf die Verschandler mit ihrer dummdreisten Vorstellung von „Modernität“. Sie reden von „Moderne“, wo der Ramsch der Vergangenheit in neuer Verpackung zum Himmel stinkt. Es sind die Wegsehenswürdigkeiten, die uns zu Hinsehern machen. Es sind die ästhetischen Verbrechen, die uns den Blick auch politisch öffnen. Kaum war 2011 in Stuttgart Baden-Württembergs grün-rote Landesregierung angetreten, rülpste der SPD-Fraktionsvorsitzende Schmiedel: „Wo der Bagger steht, geht es uns gut.“ Welch gestriger Geist die Bulldozerfraktion prägt, erklärte der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth in einem Interview über Städtebau mit Spex: „Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so läßt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen läßt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.“ Euro-Disneyland macht sich in Deutschlands Städten unaufhaltsam breit, und die Kriminalpolizei meldet: Es gibt keine deutsche Großbaustelle mehr ohne den extremen Einfluß der internationalen Mafia, keine ohne Schwarzarbeiter.
Unter der Überschrift „Teufelsspiralen“ schrieb der Architekturkritiker Dieter Bartetzko 2013 in der FAS einen denkwürdigen Beitrag über den Bauwahn und den Mietwahnsinn. „Immobilienentwickler“ versprächen „Neues Wohnen in der Stadt“, in Wahrheit „wachsen in den Innenbezirken von München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Lübeck, Leipzig, Hannover oder Berlin Wohnquartiere wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Doch mit dem Wohnungsbedarf und den fehlenden Sozialwohnungen haben diese so viel zu tun wie ein Flamingo mit einem Huhn – was entsteht, sind Luxusquartiere, deren Mieten und Kaufpreise das Monatseinkommen oder die Rücklagen der sogenannten Mittelschicht um ein Vielfaches übertreffen.“ Die Luxusarchitektur, so Bartetzko, neige ästhetisch „zur Armseligkeit“, die Einheitlichkeit der Bauten erinnere „erschütternd an Praktiken der späten DDR“: an austauschbare Dekorserien in völlig unterschiedlichen Städten wie Rostock, Erfurt, Dresden.
Wo das dämliche Adjektiv „modern“ auftaucht, folgen unweigerlich die städtebaulichen Totschlagargumente aus den Marketingagenturen. Jeder Schwachsinn steht heute für „Zukunft“ und „Fortschritt“. Aus der Psychologie weiß man, daß die menschlichen Hirnspeicher der großen Mehrheit vorwiegend nicht etwa mit Sammelstücken aus der Vergangenheit oder der Gegenwart gefüllt sind. Was den Kopf am meisten belastet, sind von Existenzangst geprägte Gedanken. Auch deshalb steht heute jeder verkäufliche Scheiß, sofern neu produziert, für Zukunft und Fortschritt.
In Ruben Fleischers düsterem Hollywood-Film Gangster Squad spielt Sean Penn den Mobster Mickey Cohen im Los Angeles der vierziger Jahre. Der Verbrecher will die ganze Stadt. Als er, größenwahnsinnig und süchtig nach „mehr“, ein weiteres Hindernis auf seinem Weg nach oben beseitigt hat, sagt er: „Das war kein Mord. Das war Fortschritt. Ich bin Fortschritt.“ Diese Szene fällt mir ein, wenn ich vor zerstörten oder mutwillig der Verwahrlosung überlassenen Baudenkmälern stehe, den gekappten Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Wegsehenswürdigkeiten unserer Städte zwingen den Herumstiefelknecht im Dienste seiner selbst zum Hinsehen. Er sollte so umweltfreundlich sein, nicht überall hinzukotzen, wo ihm in einer schöpferischen Pause gerade danach ist. Womöglich tritt der Falsche rein.
Die Hansaallee
Von Eva Demski
Als ich vor Jahrzehnten in die Hansaallee zur Schule ging, konnte man Vergangenheit und Gegenwart an ihr ablesen: schöne, verschont gebliebene, vergammelte Gründerzeithäuser im innenstadtnahen Teil, wozu auch die imperiale Halbruine unserer Schule gehörte. Ihr Namenspatron Lessing stand steinern auf dem Dach und schaute hinüber zu den amerikanischen Latifundien mit dem Poelzig-Bau als beeindruckender, wenn auch geschichtsumdüsterter Kulisse. Um den scharten sich Zweckbauten inmitten verwilderten Grüns. Darin versteckt gab es sogar ein Theater, um das wir Legenden woben, weil wir nicht reindurften.
Stadtauswärts reihten sich Blocks aneinander, die der großen Wohnungsnot nach dem Krieg abhelfen sollten. Schön waren sie nicht, aber Schönheit war in der Architektur sowieso obsolet geworden. Sie stand unter Bürgerlichkeitsverdacht. War ja auch was dran. Die schönsten Bauten verdankt die Menschheit häßlichen Systemen oder miesen, menschenverachtenden Charakteren. Allerdings hatte das vor unserer Kindheit gerade überwundene System nicht einmal akzeptable Architektur hervorgebracht, obwohl der Führer so gern bauen ließ.
Die Zeiten änderten sich. Die Altbauten an der Hansaallee wurden renoviert, Bäume wuchsen, meine Schule wurde abgerissen, Lessing landete auf dem Boden vor dem Neubau, der nicht mehr imperial, dafür klobig war. Die Mauer zwischen den beiden Deutschlands fiel, und die Amerikaner zogen von dannen. Die Fünfzigerjahreblocks wurden neu gestrichen, verzagt bunt, die Universität zog in den Poelzig-Bau und bekam den schönsten Campus, den man sich nur denken kann. Die Amerikaner waren immer großzügig mit Platz umgegangen, wahrscheinlich, weil sie daheim genug davon hatten. So waren auch ihre Wohnblocks umgeben von weiten Wiesen und konnten ihre architektonische Einfallslosigkeit hinter den groß und mächtig gewordenen Bäumen verstecken.
Mit der Universität kamen Neubauten an die Hansaallee, Institute auf der einen, Wohnungen auf der anderen Seite. Die Institute haben eine gewisse Aggressivität an die Straße gebracht, steinerne Messerschneiden gleichsam, die von den jungen Bäumen der neubepflanzten Allee bisher