Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten. Группа авторов
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Nun hat man das Ding an einem Sonntag Anfang Februar 2014 gesprengt. Die Schönheit der Explosion ist, wie alles Schöne, nicht von Dauer. Der Schuttberg aus eitel Kulturgestein und Balkenbrand soll bleiben. Ein schöner Haufen Schutt – alles ist gut.
Vorbildliche Leistung
Von Arno Dahmer
Von außen erinnert sie an ein großes Rechenheft: Betonelemente teilen die Fassade in quadratische Flächen – braun verklinkerte Vierecke, innerhalb derer sich die Kästchenstruktur leicht abgewandelt und in kleinerem Maßstab wiederholt. „Universitätsbibliothek“ steht über dem Eingang. Wer weiß, was dort einmal stand, kann noch immer „Stadt- und …“ entziffern. Zwar wurden die Buchstaben abgenommen, doch blieb eine Art Schatten zurück, eine dunklere Tönung der Klinker. Darin scheint sich ein administratives Grundprinzip auszudrücken: Es wird nur das Nötigste getan. So gab es einmal eine ältere Generation von Schließfächern, die dem Benutzer immer genau das eine Zwei-Euro-Stück abverlangten, das er gerade ausgegeben hatte. Später wurden sie abgebaut und hinterließen einen schmutzigen Abdruck, um den sich nun keiner mehr schert. Und in den Lesesälen findet man seit Jahren Verlängerungsschnüre mit mehrfacher Einsteckmöglichkeit – an die sich immer gleich mehrere Laptops mit ihren Kabeln zu klammern scheinen wie Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Neue Wandsteckdosen zu installieren widerspräche dem palliativen Prinzip. Selbst der Katalog ist eine Behelfskonstruktion. Obwohl natürlich längst computerisiert, besteht er zu einem beträchtlichen Teil aus eingescannten Karteikarten. Und eine zerbrochene Scheibe auf der Stirnseite des Gebäudes hat man kurzerhand durch ein Stück Holz ersetzt. Bis auf weiteres. Den Rest dann später, vielleicht, irgendwann, vielleicht gar nicht.
Es ist, als warte die Bibliothek nur noch auf ihre Auflösung, Ausweidung, Sprengung.
Studenten gehen hier ein und aus. Aber ausdauernd, wirklich ausdauernd, würde ein Student die Bibliothek nicht besuchen – das wäre gegen die Natur –, vielleicht nur während einer Prüfungsphase für ein paar Wochen oder Monate, gut organisiert, mit Wasserfläschchen, Laptop, verschiedenfarbigen Stiften, Ohrstöpseln und Kopfschmerztabletten.
Regelmäßig, wieder und wieder und wieder, kommen andere, nicht die Studenten, überhaupt keine Hochschulangehörigen.
Da gibt es manche, die betreten die eigentliche Bibliothek, die inneren Bereiche, gar nicht, das brauchen sie auch nicht. Einer zum Beispiel – ein Herr, der sommers wie winters einen graugelben Mantel trägt, der so aussieht, wie man sich einen Kamelhaarmantel vorstellt –, sucht täglich die Toilette im Untergeschoß zum Füßewaschen auf. Er scheint dabei von einer ganz eigenen, rätselhaften Heiterkeit erfüllt und läßt sich Zeit. Ein anderer picknickt gern an einem der Tische bei den Schließfächern. Käse, Schinken, Schnittbrot, Honig, Apfelsaft, einen violetten Joghurt in einem transparenten Gefäß, ja sogar ein Schüsselchen mit Salat holt er hervor und breitet alles umständlich auf dem Tisch aus. Doch so umständlich es wirkt: Daß er einen Fehler macht, ist ausgeschlossen! Denn er hat sich einen genauen Plan zurechtgelegt. – Auch einem Dichter kann man an diesem Ort, bei den Schließfächern, begegnen, einem alten Dichter mit zerzaustem Bart und bitteren Zügen, der auf einem Klemmbrett Verse notiert und gelegentlich zornig die lärmenden Gruppen von Studenten mustert, die sich hier gern zum Lernen verabreden.
Andere zieht es in die Lesesäle, etwa einen älteren Herrn, den man im Wortsinn einen Studienrat nennen könnte, insofern ihm auf Grund seiner unermüdlichen Studien – eigentlich – der Ehrentitel eines Rats zukäme. Täglich sitzt er da, eine beeindruckende Zahl von Büchern vor sich auf dem Tisch. Ob er in ihnen liest, ist allerdings nicht ganz sicher. Wenn man es recht bedenkt, hat man ihn eigentlich immer nur knapp über sie hinwegschauen sehen, mit dem entspannt-aufmerksamen Gesicht eines Lehrers, der eine Klassenarbeit schreiben läßt. Mag also sein, daß auch im üblichen Sinne „Studienrat“ eine passende Bezeichnung für ihn wäre. Doch läßt er manchmal alles Studienrätliche fallen, schnarcht laut, den Kopf auf den Büchern, und ist nicht zu wecken.
Tag um Tag im Lesesaal ist auch der Philosoph. Zur Vorbereitung des Arbeitstages geht er mehrmals zwischen Tisch und Regalen hin und her und bringt immer noch einmal zwei Arme voll Bücher. Indes deutet bei ihm alles darauf hin, daß er in den Büchern liest, ja sogar exzerpiert. Einst ist er eine klassische Mischung aus Student und Stadtstreicher gewesen, man sah ihn in Seminaren über Wittgenstein und Heidegger, dezent Grimassen schneidend, angetan mit einem durchgefetteten Wollpullover, der am Rücken bereits eine wachstuchartige Beschaffenheit zu haben schien. Dann, später, muß er sich irgendwie gefangen haben, er trägt nun saubere Kleider, einen weißen, gestutzten Bart und wirkt beinahe unauffälliger als der Studienrat – nur daß er noch immer diesen gehetzten Gang eines Menschen hat, der jederzeit und überall fürchtet, vertrieben zu werden.
Ach, das Bedürfnis, in der Eingangshalle auf einen dieser Tische, die es dort jetzt gibt, zu springen und zu schreien: „Ihr wißt nichts, überhaupt nichts! Früher …“ Denn hier, wo man später diesen Kiosk eingerichtet, Sitzbänke und Tische aufgestellt hat, stand früher ein Wald von metallenen Karteischränken, der Zettelkatalog. Ach, der Zettelkatalog mit seinen kleinen, ausfahrbaren Ablagen – ein leichter Druck mit den Fingerspitzen, und sie sprangen heraus, welch aparter Mechanismus! Und die Leihscheine … Kennt überhaupt noch jemand das Wort? Man brauchte Geduld, um sie auszufüllen; eine Postkarte schreibt man schneller. Und etwa so, wie ein Kind einen Brief an den Weihnachtsmann schickt, sandte man sie jenem mit der Büchersuche beauftragten Personenkreis im Innern der Bibliothek, dessen Existenz man voraussetzt, andererseits aber auch anzweifelt, da man ihn nie zu Gesicht bekommt – denn mit den Mitarbeitern der Ausleihe kann er ja kaum identisch sein.
Da stünde man also und schrie, und keiner würde einen beachten, geschweige denn verstehen. Nur vielleicht die Dame an der Ausleihe, die immer schon da war und immer dasein wird, bis zu dem Tag, an dem die Bibliothek endgültig schließt und gesprengt wird, und selbst dann wird sie noch dasein, die Tür hinter dem letzten Besucher ins Schloß drücken und mit in die Luft fliegen. Müßte sie es nicht verstehen? Würde sie, der eine in staatlichen Einrichtungen selten anzutreffende Milde eigen ist, begütigende Worte finden? Oder hat gerade sie das Alte längst vergessen? Gerade weil sie schon wieder eine endlose Reihe von Tagen Gelegenheit hatte, aus der immer gleichen Perspektive in die Eingangshalle hinauszuschauen, und sich ihr das Neue bereits eingeprägt hat wie etwas ewig Gültiges?
In den Lesesälen, wo der Studienrat und der Philosoph ihre Tage in Selbstvergessenheit zubringen, zeigen elektronische Tafeln Uhrzeit, Datum, Wochentag, sogar das Jahr, als wollten sie den Besucher daran gemahnen, daß es ein Leben, eine Wirklichkeit außerhalb der Bibliothek gibt und daß seines Bleibens hier nicht ist. Allerdings sind die Anzeigetafeln mittlerweile größtenteils defekt, halb ausgefallen oder halb mit braunem Papier überklebt, und so scheint es auch nur noch halb wahr zu sein, daß ihre verschwommenen grünen Ziffern und Buchstaben an eine andere, ferne Realität erinnern sollen, und nur mehr halb wahr, daß es dieses Leben dort draußen überhaupt gibt.
Doch Tagesgäste bleiben letztlich alle, da ist nichts zu machen. Die walzenförmigen kleinen Lautsprecher überall, auf den Bibliotheksnutzer gerichtet wie Kanonen, sind das sichtbarste und bedrohlichste Zeichen dafür. Denn am Ende eines jeden Tages senden sie eine Folge schrecklicher Pfeiftöne aus, und jeder weiß nun, was es geschlagen hat, einer verbalen Erklärung bedarf es nicht, allein diese spitzen Töne treiben