Der Schützling. Dirk Koch
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Das Bundesarchiv berichtet, die »Brandenburger« würden »für gewöhnlich von zwei Seiten aus betrachtet und entsprechend bewertet« – einerseits als Wehrmachtsverband besonderer Art, »der bewunderungswürdige Leistungen vollbracht habe«, andererseits als »Terrorverband, der gegen Kriegsrecht verstoßen und Kriegsverbrechen begangen habe«. Die »Brandenburger« waren, auch in ihrem Selbstverständnis, eine Spezialtruppe für den Partisanenkrieg. »Die Bedrohung durch Partisanen war für die deutsche Seite eine tödliche Realität, deren Bekämpfung tatsächlich militärische Notwendigkeit.« Beide Seiten hätten Kriegsverbrechen begangen, Kriegsverbrechen an Zivilisten durch deutsche Einheiten »zahlreich erwiesen«.
Der Gefreite Kanter hatte Glück. Kurz vor dem Rückzug seiner Heeresgruppe vor weit überlegenen Verbänden der Roten Armee und der Partisanentruppen des Josip Broz Tito im Herbst 1944 war er heimwärts zu einem Unteroffizierslehrgang abkommandiert worden. Unverwundet ergab sich Kanter im April 1945 nahe Würzburg vorrückenden Truppen der 7. US-Armee.
Was dann geschah, ist unklar. Kanter tischte nach seiner kurzzeitigen Festnahme 1993 den Vernehmungsbeamten allerlei auf: Die Amerikaner hätten ihn als Kriegsgefangenen ins Konzentrationslager Dachau verfrachtet, zu entsetzlichen Aufräumarbeiten. Er hätte als Beruf »Photo-Drogist« angegeben, und ihm wäre deshalb befohlen worden, Fotos und Röntgenaufnahmen der Toten zwecks späterer Identifizierung zu entwickeln. Nach drei Monaten hätte man ihn entlassen.
Stimmt das so? Auf dem Gelände des KZs haben die Amerikaner im Juli 1945 begonnen, ein Internierungslager für Kriegsgefangene und mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher einzurichten. Kanter ist nach eigenen Angaben bereits im Juli 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Wollte er sich als Opfer darstellen? Wollte er bei den Vernehmern damit punkten, dass ihn Schreckenserlebnisse im KZ zum Weltverbesserer gemacht hätten? Wie kam es, dass der Ex-Brandenburger schon sieben Monate nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft einen Posten in der Bezirksregierung Koblenz bekam?
In dem KZ Dachau nordwestlich von München hatten die US-Truppen Ende April 1945 in einem Güterzug aus Buchenwald die Leichen von mehr als 2.300 Häftlingen entdeckt, dazu Leichenberge vor den Baracken. Das US-Militär erschoss mindestens 16 SS-Bewacher, nachdem sie sich ergeben hatten. Die US-Armee führte das KZ einige Monate lang organisatorisch weiter, versorgte die überlebenden Häftlinge mit Nahrung und Medikamenten, impfte sie gegen Typhus.
OLG-Richter Vonnahme in Koblenz nahm bei seiner Forschung nach Gründen für Kanters Verrat dessen Dachau-Erzählungen für bare Münze. »Ein gewichtiges Motiv des Angeklagten«, schrieb der Richter 1995 in die Urteilsbegründung, als sei er froh, sich so für die ungewöhnlich milde Bewährungsstrafe rechtfertigen zu können, »lag jedenfalls in der Anfangszeit vielmehr in dem Bestreben, zur Verständigung der Völker und Staaten und damit zum Erhalt des Friedens beizutragen. Außer durch seine humanistische und von der christlichen Lehre geprägten sozialen Grundeinstellung sah er sich insbesondere durch seine Erlebnisse im Konzentrationslager in Dachau dazu veranlasst, den Dialog auch mit Fremden und Andersdenkenden zu suchen. Davon nahm er kommunistische Gesprächspartner, denen er schon früh, unter anderem in Marienberg bei den Weltjugendspielen, begegnete, nicht aus, zumal er zwischen dem von sozialistischer Seite propagierten Humanismus und dem Linkskatholizismus, dem er sich zugehörig fühlte, Gemeinsamkeiten sah.«
Kanter, der edle Agent? Geschluckt hatte Richter Vonnahme auch, was Kanter über sich als Europa-Fan erzählt hatte. Urteilstext: »Auch wollte er, von der Idee eines zusammenwachsenden Europas begeistert, diese Entwicklung nicht auf den westlichen, von der EG und der NATO bestimmten Teil des Kontinents beschränkt sehen. Der kommunistischen Ideologie des SED-Regimes mit ihrer stark atheistischen Ausrichtung brachte der Angeklagte allerdings keine Sympathie entgegen.«
Wahr hin gegen ist: Es war eben dieses SED-Regime, das ihrem Geheimagenten Kanter Anfang der 1950er-Jahre die Order erteilte, sich als guter Europäer auszugeben. Er solle sich in die junge europäische Bewegung in Westdeutschland einschleichen und sie ausspähen.
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