Flieg Gedanke. Sybille und Manfred Specht

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Flieg Gedanke - Sybille und Manfred Specht

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mein Kopf nach den Geburtsanstrengungen noch etwas deformiert war, behauptete mein Opa, das könne unmöglich seine Enkeltochter sein. Hat sich dann aber alles verwachsen. Glaube ich zumindest.

      Auch Leipzig wurde von den Alliierten schwer bombardiert, daher blieb meine Mutter mit mir bis zum Ende des Krieges bei meinen Großeltern in Riesa. Im Zuge der Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten (ein Kriegsverbrechen, das bis heute als solches nicht anerkannt ist) nahmen Oma und Opa Marx die vierköpfige Familie seiner Schwester aus Schlesien auf. Die Wohnverhältnisse in einer Dreizimmerwohnung waren dadurch sehr beengt, und da unser Haus in Leipzig in einer Trümmerstraße zum Glück nicht betroffen war, zogen meine Mutter und ich zurück nach Leipzig.

      Mein Vater geriet zu dieser Zeit vorerst in amerikanische Gefangenschaft, wurde anschließend von den Sowjets „übernommen“ und nach sechs Wochen im KZ Sachsenhausen nach Tiflis in Georgien verschleppt. Vier lange Jahre musste er unter schwierigsten Umständen und Bedingungen dort verbringen, ohne ein Lebenszeichen geben zu können. Auch für die Daheimgebliebenen eine unerträgliche und unmenschliche Zeit. Nur einer geringen Anzahl der Kriegsgefangenen war eine Heimkehr, oftmals schwer gezeichnet und krank, überhaupt möglich. Mein Vater gehörte zu den wenigen Glücklichen, die 1949 nach Hause zurückkehren durften. Er war körperlich unversehrt, das Aufarbeiten der seelischen Wunden der Gefangenschaft sowie der Bilder der neben ihm im Feld gefallenen Kameraden hat aber noch viele Jahre gebraucht.

      Immer wieder hat er uns über diese Zeit seine Erlebnisse geschildert. Das war sicher seine Art, diese schlimme Zeit zu verarbeiten.

      1949 kehrte er also heim. Fünf Jahre hatte ich mit meiner Mutter allein verbracht und mit ihr zusammen im Schlafzimmer in einem Bett geschlafen. Ich kann mich noch heute daran erinnern, wie verletzt ich war, nun allein in einem anderen Raum schlafen zu müssen, und ein „fremder“ Mann durfte neben Mutti meinen Platz einnehmen. Aber auch für meinen Vater war es nicht einfach, denn an meinen ersten frühkindlichen Entwicklungsjahren hatte er nicht teilnehmen dürfen. Nach einer kurzen Übergangszeit spielte sich alles ein, Vati wurde akzeptiert und es begann ein normales Familienleben.

      Auch außerhalb der Familie normalisierte sich das Leben auf niedrigem Niveau. Vati bekam Arbeit als ausgebildeter Kaufmann in der Farbenfabrik Wolfen, was eine tägliche Bahnfahrt von Leipzig nach Wolfen bedeutete. Aber es gab ein regelmäßiges bescheidenes Einkommen.

      Wovon Mutti mit mir die Jahre während Vatis Abwesenheit gelebt hat, ist mir leider nicht bekannt; ich hatte sie nie danach gefragt. Ich kann mir vorstellen, dass sie so eine Art Soldatengehalt bekommen hat. Wahrscheinlich wurde sie auch von ihren Eltern unterstützt, wobei diese auch ihr gesamtes Sparvermögen verloren hatten. Nach dem Krieg gab es eine Währungsreform – sprich: Man wurde enteignet.

      Bild 2 – Sybilles Einschulung im September 1950

      1950 begann für mich mit meiner Einschulung ein neuer Lebensabschnitt. Die Schule hatte die Bombardierung nur zur Hälfte überstanden, aber im unversehrten Teil konnte wieder Unterricht stattfinden. Es musste halt etwas zusammengerückt werden. Unsere Lehrer waren jedoch hoch motiviert und konnten uns Schüler schnell fürs Lernen begeistern. Das ABC erlernten wir nach alter Väter Sitte, Ganzheitsmethode und Legasthenie waren noch unbekannt. Auch stand das Einmaleins auf dem Lehrplan, mit Mengenlehre mussten sich erst unsere Kinder plagen. Bei ihnen war zwar auch wieder Kopfrechnen angesagt, während heute schnell mal zum Handy gegriffen wird.

      1952 wurde mein Bruder Matthias geboren. Oma Camilla kam hochbetagt mit der Bahn von Riesa nach Leipzig angereist, um den damals letzten Stammhalter der Familie Tischer in Augenschein zu nehmen. In dieser Generation ist er auch der einzige Nachkomme der Familie Tischer geblieben. Zu dieser Zeit war gewöhnlich die „Thronfolge“ männlich, und somit rückte ich als Erstgeborene automatisch ins zweite Glied.

      Zur gleichen Zeit wurde Vati von seiner Firma nach Berlin (natürlich Ost, denn Leipzig gehörte zur sowjetischen Besatzungszone) versetzt und übernahm als kaufmännischer Leiter das Außenbüro der Farbenfabrik Wolfen. Nach mehrmonatigem Pendeln zwischen Leipzig und Berlin (immer mit der Bahn, denn ein eigenes Auto oder ein Firmenwagen waren bis dahin außerhalb des Vorstellbaren) ging Vati auf Wohnungssuche, was im immer noch bombenzerstörten Berlin eine fast unlösbare Aufgabe war.

      Vor dem Krieg war Vati allerdings stolzer Besitzer eines eigenen Autos einschließlich eines auch damals schon notwendigen Führerscheins. Am Ende des Krieges beschlagnahmten die Russen den Wagen und haben das Auto während der Zeit, als Vati in Gefangenschaft war, einfach verkauft. Bei einem Besuch in Riesa sah Vati sein Auto am Straßenrand und machte den Fahrer ausfindig. Es war der neue Besitzer, der den Wagen von den Russen gekauft hatte. Somit hatte Vati keinen Anspruch mehr!!!

      Zurück zur Wohnungssuche:

      Er hatte Glück und ergatterte eine schöne Zweieinhalbzimmerwohnung in einem Zweifamilienhaus – allerdings für damalige Verhältnisse jwd. Der unmittelbare Zugang zu Wald und Wasser (Müggel- und Dämeritzsee) war für uns Kinder einfach paradiesisch und ließ uns in nahezu unberührter Natur aufwachsen. Im Sommer ging es mit den Eltern und Großeltern in die Beeren und Pilze, die damals noch reichlich vorhanden waren. Oma und Opa Marx verbrachten regelmäßig ihren dreiwöchigen Urlaub bei uns, und wir Kinder freuten uns immer riesig auf ihren Besuch. Wie das Schlafproblem mit sechs Personen in unserer Wohnung gestaltet wurde, ist mir heute nicht mehr in Erinnerung, es wurde aber wohl gelöst und wir hatten immer eine wunderbare Sommerzeit.

      Bei bedecktem Himmel ging es also in die Pilze und die Ausbeute war immer reichlich, sodass auch für den Winter eingeweckt werden konnte. Manchmal besuchte uns auch eine entfernte Cousine aus Niesky und zeigte uns als offizielle Pilzberaterin viele uns unbekannte Pilze. Dazu gehörten auch die giftigen, damit wir vor Verwechslungen sicher waren. Dieses Wissen war uns noch viele Jahre später sehr hilfreich, als wir die schwedischen Wälder erkundeten.

      Bevor wir nun diese wunderbare Umgebung in Rahnsdorf erleben konnten, stand erst einmal der Umzug von Leipzig nach Berlin an. Vati war schon ein Jahr vor der Familie in seiner neuen Arbeitsstelle tätig und wohnte die Woche über bei einem Arbeitskollegen und seiner Frau. Am Wochenende fuhr er zu uns nach Leipzig. Mit der Übersiedlung nach Berlin im Februar 1953 begann nun auch ein wirkliches Familienleben für uns, die Wochenenden konnten genossen werden, wobei samstags noch bis mittags gearbeitet werden musste. Auch wir Schüler drückten bis zum Schulabschluss jeden Samstag die Schulbank.

      Meine Umschulung nach Berlin bereitete mir keine Schwierigkeiten, zumindest was den Lernstoff betraf. Allerdings war ich mit meinem wohl breiten Sächsisch ein Exot. Die „herzliche“ Art der Berliner Gören machte es mir aber leicht, mich innerhalb kurzer Zeit auf „icke, icke“ umzustellen. Eigentlich ist Sächsisch ja ein liebenswerter Dialekt (was nicht viele so sehen), und bei Bedarf kann ich es heute noch sprechen und viele Begriffe auch verstehen.

      Mein Bruder Matthias war beim Umzug erst drei Monate alt und hatte noch keine Sprachprobleme. Allerdings weigerte er sich lange, überhaupt zu sprechen, er wurde sogar mal beim Arzt vorgestellt, weil meine Eltern sich Sorgen machten. Mit gut zweieinhalb Jahren kam dann die Erlösung und er sprach sofort ganze Sätze!

      Mein Einleben in die neue Schule gelang also ohne Probleme, und die ersten Sommerferien wurden intensiv am Müggelsee verbracht. Da ich als Leipziger Stadtkind bis zu unserem Umzug keine Möglichkeit hatte, schwimmen zu lernen, bot sich nun dazu die erste Möglichkeit, zumal ich mit meinen Schulkameraden auch allein ohne meine Eltern zum See fahren wollte. Also wurde ich zum Schwimmunterricht angemeldet und kam „an die Angel“. Auf einer schwimmenden Insel (unter dem Begriff Prahm im Strandbad bekannt) war ein Ausleger wie eine steife Angelrute befestigt. Statt Angelschnur hing am vorderen Ende eine Schlinge an der langen Leine, die um die Brust gelegt wurde. So

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