Flieg Gedanke. Sybille und Manfred Specht

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Flieg Gedanke - Sybille und Manfred Specht

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Haus und zwei Männer inspizierten unsere Wohnung. Verschiedene tragbare Gegenstände nahmen sie einfach mit und drohten meiner verzweifelten Mutter mit ihrem nochmaligen Erscheinen und der Mitnahme einiger Möbel. In ihrer hilflosen Situation fand sie jedoch Beistand bei einsichtigen Menschen mit verbliebenem oder neuem Einfluss. Sie rieten, den Übeltätern nicht die Tür zu öffnen, denn diese hätten keinerlei rechtliche Befugnis für ihre Diebestouren. Polizeiliche Hilfe gäbe es allerdings auch nicht.

      Auf dem Heimweg nach der Schule lief ich einige Zeit neben einem von zwei Pferden gezogenen Möbelwagen her. Plötzlich hatte ich die Eingebung, die könnten womöglich zu uns kommen, um Möbel zu holen. An der nächsten Straßenecke bogen sie tatsächlich in Richtung unseres Hauses ab. Wenige Minuten später hielten sie vor unserer Tür. Mir war sofort klar, dass ich nicht zu uns ins Haus gehen durfte. Ich ging einfach weiter bis zum Nachbarhaus und klingelte dort, wurde eingelassen und beschrieb meine Befürchtungen. Sofort erhielt ich Unterstützung und Gastrecht. Die Hausbesitzerin war übrigens die Dame, die über unsere Spanndrähte gestolpert war. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie hinter der Gardine gestanden und bangen Herzens mich zusammen mit dem Möbelwagen hatte kommen sehen. Sie hätte Blut und Wasser geschwitzt. Natürlich war ich stolz auf meine Weitsicht.

      Eines Tages wurde der Vater eines meiner Freunde von den Russen abgeholt. Er war Maschinenbau-Ingenieur, schon des Längeren bei Krupp beschäftigt und spezialisiert auf Mühlenbau. Der Grund blieb unbekannt. Als glaubensstarke Katholiken betete die Familie täglich mehrmals für ihren Mann und Vater. Nach zwei Tagen kam er tatsächlich wieder heim, und einen Tag später war das Haus verlassen. Die Familie war nach Westberlin geflohen.

      Mit der Zeit normalisierten sich die Verhältnisse auf ein bescheidenes Nachkriegsniveau. Mein Vater avancierte zu einer Leitfigur für den Wiederaufbau der Industrie und wechselte zum Stahl- und Walzwerk Riesa, ehemals Thyssen.

      Wieder ein Umzug, wieder ein Schulwechsel. In Riesa-Gröba bezogen wir im Jahr 1949 anfangs eine Werkswohnung, etwas später eine kleinere Etagenwohnung in einem Zweifamilienhaus ganz in der Nähe. Nach sechs Jahren wurden dann meine Eltern nach jahrelangem Getrenntsein geschieden. Mein Vater wechselte in der Zwischenzeit nochmals zum Stahlwerk Freital bei Dresden, um dann nach der Scheidung die DDR zu verlassen und in Hürth bei Köln unterzutauchen.

      Der Schulbetrieb in Gröba unterschied sich essenziell von dem in Magdeburg. Hier gab es normalen Sportunterricht, sogar Sportfeste mit Siegerehrungen. Jede Klasse verfügte über eine Fußballmannschaft, die gegeneinander antraten. Es gab eine Turnhalle. Der Unterricht war interessant. Ich war hoch motiviert. Am Ende war ich Schulrekordhalter im Weitsprung und beendete 1951 die Grundschule Gröba „mit Auszeichnung“. Ein Jahr zuvor war ich in den Sportverein „Fortschritt Riesa“, Abteilung Fußball eingetreten und wechselte später in die A-Jugend zu „Chemie Riesa“.

      Vorausgegangen war bei annehmbarem Wetter ein beinahe tägliches Treffen einer Jugendclique auf dem Sportplatz der Radrennbahn – kurz „Ratsche“ genannt. Harald war der Älteste, arbeitete bereits im Stahlwerk, verdiente Geld und konnte uns einen Fußball spendieren. Dafür war er Ehrenmitglied. Ernstl wohnte in der Nähe und konnte aus dem Dachfenster die Ratsche überblicken.

      Sobald sich dort etwas regte, war Ernstl zur Stelle. Er zählt noch heute zu meinem Freundeskreis und wohnt noch immer ganz in der Nähe, sodass wir uns regelmäßig besuchen können. Auch er zählte neben zwei weiteren Freunden zum Kern unserer Jugendmannschaft in Riesa.

      Meine Mutter hatte in der nahen Umgebung in einem Kolonialwarengeschäft als Verkäuferin eine Arbeitsstelle gefunden. Sie legte großen Wert darauf, nahe bei unserer Wohnung arbeiten zu können, um die Mittagszeit zu nutzen, uns beiden Kindern immer nach der Schule ein Essen bereiten zu können und stets für uns bei Bedarf erreichbar zu sein. Sie selbst war gleichermaßen eingebunden in einen Freundeskreis, der ihr sicher in vielen belastenden Situationen Halt gab.

      Nach der Grundschule besuchte ich von 1951 bis 1955 die Max-Planck-Oberschule Riesa. Der einfache Schulweg nahm etwa eine dreiviertel Stunde in Anspruch. Bei ganz und gar miserablem Wetter erhielt ich von meiner Mutter für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus dreißig Pfennige. Viele Male habe ich mir dann doch ein Herz genommen, bin gelaufen und habe dreißig Pfennig in meine Sparbüchse getan. Da ich wegen der beruflichen Stellung meines Vaters nicht zu den Arbeiter- und Bauernkindern zählte, musste meine Mutter ein monatliches Schulgeld bezahlen. Als vier Jahre später mein Bruder zur Max-Planck-Oberschule nachrückte, galt er zu unserem Erstaunen als Arbeiter- und Bauernkind. Ein Entscheider hatte offensichtlich ein Einsehen und Mitgefühl.

      Täglich sah ich, wie meine tapfere Mutter sich abmühte, um die Familie über die Runden zu bekommen und dazu das Schulgeld aufzubringen. Als ich ihr eines Abends vorschlug, von der Schule zu gehen und im Stahlwerk eine Arbeit annehmen zu wollen, war sie strikt dagegen. „Und wenn ich Tag und Nacht arbeiten müsste, meine Jungs bekommen die beste Ausbildung, die erreicht werden kann.“ Ihr Heldenmut war ungebrochen. Ohne diese starke Mutter hätten mein Bruder und ich unsere Lebensziele wohl nicht verwirklichen können. In den Sommerferien habe ich für einige Wochen im Reifenwerk eine Arbeit angenommen und konnte auf diese Weise etwas zum Familienbudget beitragen. Die Arbeitseinsätze waren sehr abwechslungsreich vom Besenschwinger der Hofkolonne über Beifahrer im Lastwagen (ohne Führerschein), Formenreiniger in der Reifenfertigung bis hin zum Hilfsarbeiter bei der Fahrstuhlmontage. Bei letzterem Einsatz habe ich zwei sehr bedrohliche Arbeitsunfälle mit glücklichem Ausgang überstanden. Hier hatte ich in der Tat einen behütenden Schutzengel.

      Der erste Winter meiner Oberschulzeit war sehr kalt. Von einem Bekannten konnte ich ein Paar passende Wehrmachtsstiefel, sogenannte Knobelbecher, ergattern und erschien damit täglich in der Schule. Kein Lehrer, noch nicht einmal der Rektor, nahm daran Anstoß. Jeder musste damals eben sehen, wie er zurechtkam.

      Einige der Lehrer waren Kriegsteilnehmer und durch intensive Kurzlehrgänge umgeschult worden. Der Mathelehrer war Artillerieoffizier, der Chemielehrer hatte im Lazarett gesunden können, und der Deutschlehrer war ein beinversehrter Jagdflieger, der mit Krücken umherlief. Die Biologielehrerin war zuvor bis zur Vergesellschaftung Chefsekretärin bei Thyssen im Stahlwerk. Aber ausnahmslos alle beherrschten ihr Fach und konnten es uns auch erfolgreich vermitteln. Hin und wieder durchwehte ein spürbarer Hauch entlehnter einstiger Ordnung unsere Klassenräume. Durchaus zu unserem Vorteil.

      Unseren Deutschlehrer hatten wir besonders ins Herz geschlossen, obwohl es im Unterricht streng und zackig zuging. Ab dem elften Schuljahr waren wir eine reine Jungsklasse von neunzehn Schülern. Ein Schwätzer erhielt die Ermahnung: „Kerl, wenn du weiter schwatzt, schlag ich dir die Krücke auf den Schädel, dass du Plattfüße bekommst“. Oder ein Schüler, der vergessen hatte, ein Gedicht auswendig zu lernen, und eine Ausrede zusammen stotterte: „Setz dich, Dussel. Aber den Nächsten lass ich stehen, und wenn ihm der Schweiß den Arsch runterrinnt“. Wenn er das Klassenzimmer betrat, war manchmal zu hören: „Kerle, reißt die Fenster auf, ein Weibermief ist das hier.“ Wir haben uns köstlich amüsiert. Verehrt haben wir ihn vor allem, weil er in kritischen Situationen, die es auch gab, stets auf unserer Seite stand und uns beigestanden hat. Unsere Biologielehrerin rief einmal verzweifelt: „Ihr seid sehr intelligent, aber schrecklich doof.“ Gemeint hatte sie wohl unsere noch unterentwickelte Allgemeinbildung.

      Auch in Riesa gab es eine Jugendclique, sogar mit einem Hauptquartier, ein kleines Wäldchen am Ufer der Elbe. Bis Anfang der Fünfzigerjahre war das Wasser sauber genug, um hinüber ans andere Ufer zu schwimmen. Danach verschmutzte die Elbe zusehends. Vorbeitreibende Lastkähne wurden von uns mit einer Steinschleuder traktiert. Wir zielten auf die Bullaugen, getroffen haben wir allerdings nie eine. Die Schiffer tobten und brüllten herüber. Eines Tages kam wieder ein Kahn vorbeigetrieben, aber der Schiffer blieb ruhig vor seinem Steuerhaus stehen. Das hätte uns misstrauisch machen müssen.

      In

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